• en
  • de


  • “Zu jeder Zeit“, mit der Kamera Emotionen der Pfle­ge­aus­bil­dung durchleuchten


    Konrad Wakolbinger

    Ein W-o-W Filmabend kontrastiert Berufsinformationsfilme mit dem einfühlsamen Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ (FR 2018) von Nicolas Philibert zur Pflegausbildung im in einem Krankenhaus im Großraum Paris.

    Im zweiten Teil des W‑o-W The­men­abends Pfle­ge­be­ruf wirft der bekannte Doku­men­tar­fil­mer Nicolas Philibert (Etre et avoir/Sein und Haben) einen radikal sub­jek­ti­ven Blick auf die Aus­bil­dung von Kran­ken­pfle­ge­rin­nen und Kran­ken­pfle­ger im Lern­kran­ken­haus La Croix Saint-Simon in Montreuil. “Zu Jeder Zeit” (De chaque instant) FR 2018 lässt sich als Gegen­po­si­ti­on zu den fak­ten­be­zo­ge­nen, meist nüch­ter­nen Berufs­in­for­ma­ti­ons­fil­men des ersten Teils unseres Film­abends lesen. Zwischen Wirk­lich­keit und Werbung. Berufs­in­f­o­fil­me zur Kran­ken­pfle­ge im Wandel der Zeit

    In einem Lehrsaal drücken weiß­ge­klei­de­te junge Menschen in einem Affen­tem­po auf einen künst­li­chen Torso, um die Herz­druck­mas­sa­ge zu üben. Die Kamera beob­ach­tet ruhig, wie ein Pfle­ge­schü­ler seine Ängste vor dem ersten Stich, den er setzen wird müssen, seiner Kollegin schildert, während sie bei einer “Tro­cken­übung” die Injek­ti­ons­na­del unsicher in einen Dummy sticht.

    Nicolas Philibert nimmt die Zuseher direkt mit hinein in die auf­re­gen­den ersten Tage einer Klasse von Pflegeschüler*innen. Wir können die schnat­ter­haf­te Auf­ge­regt­heit und Euphorie der ethnisch bunt-durch­misch­ten Gruppe spüren, wenn ein junger Mann, den Unterleib einer Gebä­ren­den als Demons­tra­ti­ons­mo­dell zwischen den Beinen, die Nöte einer Geburt ken­nen­lernt und dabei von der Lehrerin, die den Rhythmus der Press­we­hen keucht, ange­lei­tet wird. Von lustigen und sym­pa­thi­schen Szenen dieser Art schneidet Philibert in den drögen Fron­tal­un­ter­richt einer Vor­tra­gen­den, die den Schüler*innen den Ethik­ko­dex für das Pfle­ge­per­so­nal geradezu einhämmert.

    Bilder, Sprache und Töne wirken unver­mit­telt auf den Zuschauer. Der Regisseur enthält sich jedes Kom­men­tars, er ordnet nicht ein, er wertet nicht, er erklärt nichts. Er lässt uns, im besten Sinn, allein mit den Aus­zu­bil­den­den und das, so habe ich das Gefühl, lässt uns mit ihnen besonders stark sym­pa­thi­sie­ren. Wir lachen über die unge­schick­ten Versuche bei den Blut­ab­nah­me­übun­gen und wenn die Schülerin bei ihrem ersten Patienten der Kran­ken­haus­pra­xis Fehler macht, dann bereitet uns das Sorge.

    Mit dem Pra­xis­se­mes­ter sind wir im im zweiten Teil des Films ange­kom­men. Der oft raue Alltag des Kran­ken­hau­ses setzt die Neulinge unter Druck. Wir merken, dass einige eini­ger­ma­ßen gut damit umgehen können, andere sind der Ver­zweif­lung nahe. Der empha­ti­sche junge Mann, der auf der großen Terrasse der Klink mit den Psych­ia­trie­pa­ti­en­tIn­nen unver­krampft eine Zigarette nach der anderen raucht und sich ihre klug-verqueren Geschich­ten anhört, wird wohl seinen Beruf gefunden haben.

    Aber wenn wir die Feedback-Gespräche, die den dritten Abschnitt des Filmes bilden, verfolgen, zweifeln wir, ob bestimmte Schü­le­rIn­nen auf dem richtigen Weg sind.  Supervisor*innen ana­ly­sie­ren empa­thisch aber ganz klar in der Sache die Aus­bil­dungs­for­schrit­te und die Defizite der Kandidat*innen und bespre­chen die mögliche Ein­satz­be­rei­che nach dem Examen. Wenn eine Schülerin um Ihre Zukunft kämpft, dann geht uns das unter die Haut, auch weil Nicolas Philibert mit der Kamera ganz dicht dran ist. Und genau das ist es, was “Zu jeder Zeit” für mich so besonders macht: ein Film bei dem man den Menschen ganz nahekommt.

    In Nicolas Philibert Film gibt es keine Pfle­ge­kri­se, nicht die Frage der Finan­zie­rung des Gesund­heits­sys­tems, keine poli­ti­sche Kritik, nicht einmal die Schwie­rig­kei­ten bei der Rekru­tie­rung des Pfle­ge­per­so­nals the­ma­ti­siert er. Nur Menschen, Schü­le­rin­nen wie Leh­re­rin­nen, mit ihren unter­schied­li­chen Tem­pe­ra­men­ten und Talenten begegnen wir auf ihrem Weg zum Beruf. Denn im Gegensatz zu Berufs­in­for­ma­ti­ons­fil­men, die einem Ziel und Zweck ver­pflich­tet sind, darf er, der Doku­men­tar­film, das: Position beziehen.

    Zu jeder Zeit (De Chaque Instant), FR 2019, Nicolas Philibert 

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Tags

    “Zu jeder Zeit“, mit der Kamera Emotionen der Pfle­ge­aus­bil­dung durchleuchten

    Konrad Wakolbinger

    Ein W-o-W Filmabend kontrastiert Berufsinformationsfilme mit dem einfühlsamen Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ (FR 2018) von Nicolas Philibert zur Pflegausbildung im in einem Krankenhaus im Großraum Paris.

    Im zweiten Teil des W‑o-W The­men­abends Pfle­ge­be­ruf wirft der bekannte Doku­men­tar­fil­mer Nicolas Philibert (Etre et avoir/Sein und Haben) einen radikal sub­jek­ti­ven Blick auf die Aus­bil­dung von Kran­ken­pfle­ge­rin­nen und Kran­ken­pfle­ger im Lern­kran­ken­haus La Croix Saint-Simon in Montreuil. “Zu Jeder Zeit” (De chaque instant) FR 2018 lässt sich als Gegen­po­si­ti­on zu den fak­ten­be­zo­ge­nen, meist nüch­ter­nen Berufs­in­for­ma­ti­ons­fil­men des ersten Teils unseres Film­abends lesen. Zwischen Wirk­lich­keit und Werbung. Berufs­in­f­o­fil­me zur Kran­ken­pfle­ge im Wandel der Zeit

    In einem Lehrsaal drücken weiß­ge­klei­de­te junge Menschen in einem Affen­tem­po auf einen künst­li­chen Torso, um die Herz­druck­mas­sa­ge zu üben. Die Kamera beob­ach­tet ruhig, wie ein Pfle­ge­schü­ler seine Ängste vor dem ersten Stich, den er setzen wird müssen, seiner Kollegin schildert, während sie bei einer “Tro­cken­übung” die Injek­ti­ons­na­del unsicher in einen Dummy sticht.

    Nicolas Philibert nimmt die Zuseher direkt mit hinein in die auf­re­gen­den ersten Tage einer Klasse von Pflegeschüler*innen. Wir können die schnat­ter­haf­te Auf­ge­regt­heit und Euphorie der ethnisch bunt-durch­misch­ten Gruppe spüren, wenn ein junger Mann, den Unterleib einer Gebä­ren­den als Demons­tra­ti­ons­mo­dell zwischen den Beinen, die Nöte einer Geburt ken­nen­lernt und dabei von der Lehrerin, die den Rhythmus der Press­we­hen keucht, ange­lei­tet wird. Von lustigen und sym­pa­thi­schen Szenen dieser Art schneidet Philibert in den drögen Fron­tal­un­ter­richt einer Vor­tra­gen­den, die den Schüler*innen den Ethik­ko­dex für das Pfle­ge­per­so­nal geradezu einhämmert.

    Bilder, Sprache und Töne wirken unver­mit­telt auf den Zuschauer. Der Regisseur enthält sich jedes Kom­men­tars, er ordnet nicht ein, er wertet nicht, er erklärt nichts. Er lässt uns, im besten Sinn, allein mit den Aus­zu­bil­den­den und das, so habe ich das Gefühl, lässt uns mit ihnen besonders stark sym­pa­thi­sie­ren. Wir lachen über die unge­schick­ten Versuche bei den Blut­ab­nah­me­übun­gen und wenn die Schülerin bei ihrem ersten Patienten der Kran­ken­haus­pra­xis Fehler macht, dann bereitet uns das Sorge.

    Mit dem Pra­xis­se­mes­ter sind wir im im zweiten Teil des Films ange­kom­men. Der oft raue Alltag des Kran­ken­hau­ses setzt die Neulinge unter Druck. Wir merken, dass einige eini­ger­ma­ßen gut damit umgehen können, andere sind der Ver­zweif­lung nahe. Der empha­ti­sche junge Mann, der auf der großen Terrasse der Klink mit den Psych­ia­trie­pa­ti­en­tIn­nen unver­krampft eine Zigarette nach der anderen raucht und sich ihre klug-verqueren Geschich­ten anhört, wird wohl seinen Beruf gefunden haben.

    Aber wenn wir die Feedback-Gespräche, die den dritten Abschnitt des Filmes bilden, verfolgen, zweifeln wir, ob bestimmte Schü­le­rIn­nen auf dem richtigen Weg sind.  Supervisor*innen ana­ly­sie­ren empa­thisch aber ganz klar in der Sache die Aus­bil­dungs­for­schrit­te und die Defizite der Kandidat*innen und bespre­chen die mögliche Ein­satz­be­rei­che nach dem Examen. Wenn eine Schülerin um Ihre Zukunft kämpft, dann geht uns das unter die Haut, auch weil Nicolas Philibert mit der Kamera ganz dicht dran ist. Und genau das ist es, was “Zu jeder Zeit” für mich so besonders macht: ein Film bei dem man den Menschen ganz nahekommt.

    In Nicolas Philibert Film gibt es keine Pfle­ge­kri­se, nicht die Frage der Finan­zie­rung des Gesund­heits­sys­tems, keine poli­ti­sche Kritik, nicht einmal die Schwie­rig­kei­ten bei der Rekru­tie­rung des Pfle­ge­per­so­nals the­ma­ti­siert er. Nur Menschen, Schü­le­rin­nen wie Leh­re­rin­nen, mit ihren unter­schied­li­chen Tem­pe­ra­men­ten und Talenten begegnen wir auf ihrem Weg zum Beruf. Denn im Gegensatz zu Berufs­in­for­ma­ti­ons­fil­men, die einem Ziel und Zweck ver­pflich­tet sind, darf er, der Doku­men­tar­film, das: Position beziehen.

    Zu jeder Zeit (De Chaque Instant), FR 2019, Nicolas Philibert

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Zu jeder Zeit - Filmstill

    Tags


    Zwischen Wirklichkeit und Werbung. Berufsinfofilme zur Krankenpflege im Wandel der Zeit

    Zwischen Wirk­lich­keit und Werbung. Berufs­in­f­o­fil­me zur Kran­ken­pfle­ge im Wandel der Zeit

    Die Bekämpfung des Pflegepersonalnotstands durch Film hat Geschichte. Ein W-o-W Filmabend thematisiert den Wandel des Pflegeberufs anhand von Berufsinformationsfilmen aus den letzten 80 Jahre.

    Hikikomori - Depression als Rebellion?

    Hiki­ko­m­ori — Depres­si­on als Rebellion?

    Was kann man aus Japans Erfahrung für Europas Umgang mit NEET-Jugendlichen, also jenen die weder in Beschäftigung noch Ausbildung sind, lernen?

    W-o-W Film Screening #1: Pflegenotstand im Scheinwerferlicht

    W‑o-W Film Screening #1: Pfle­ge­not­stand im Scheinwerferlicht

    Work-o-Witch veranstaltet am 10. November 2022 einen Filmabend zur Pflegeausbildung. Die Veranstaltung untersucht die Rolle des Films in der Berufsausbildung und als Mittel zur Thematisierung und Bekämpfung des Pflege-(personal-)notstands.

    Educating Frank

    Educating Frank

    „Educating Rita“ (1983) ist das unbestrittene filmische Lieblingsbeispiel der Erwachsenenbildungsforschung: selten wurde der soziale Aufstieg über Bildung so facettenreich wie unterhaltsam erzählt. In Zeiten digitaler Lehre lohnt ein Wiedersehen mit Fokus auf der zweiten Hauptrolle, neben Rita, dem Dozenten Frank, alias Michael Caine.

    Trainspotters' job interviews

    Train­spot­ters’ job interviews

    Job-Interviews im Spielfilm sind selten. Dennoch hält die Filmgeschichte einige besondere Leckerbissen bereit. Aus Sicht der Arbeitsmarktverwaltung unübertroffen ist die Interview-Szene aus Trainspotting (1996) von Danny Boyle.

    Was ist Arbeit?

    Was ist Arbeit?

    Was Beschäftigung? Und wie haben sie sich über die Jahrhunderte verändert? Führende Wissenschafter:innen  aus Europa, den USA, China und Afrika reflektieren diese und verwandte Fragen in einem sechsteiligen Dokumentarfilm von Gérard Mordillat und Bertrand Rothé, der sich auch fabelhaft als Podcast eignet.

    1 12 13 14 15 16 48