Garderobiers der Weltbühnen
Als ich vor geraumer Zeit an der Universität Tallinn zu tun hatte, es muss kurz nach Estlands EU-Beitritt gewesen sein, war ich fasziniert davon, dass es dort wie im Theater eine Garderobe gab, an der – zumeist ältere Frauen – die Jacken und Mäntel junger Studenten entgegennahmen. Auf der einen Seite war da das Gefühl des Luxus in einem vermeintlich ärmeren Land, auf der anderen Seite die unmittelbar sichtbare Ungleichheit, aber gleichzeitig auch die gesellschaftliche Teilhabe der älteren Generation und direkten Unterstützung der jüngeren – es wirkte jedenfalls wie aus der Zeit gefallen.
Das Pausengespräch der Garderobenfrau und Pensionistin Nadezhda Sokhtskaya mit einer Arbeitskollegin an ihrem Arbeitsplatz im Opernhaus Odessa, dokumentiert im Film „Secondo Me” (2016) von Pavel Cuzuioc, hat genau diesen Eindruck in mir wieder wachgerufen. Ganz anders hingegen, und doch vergleichbar, weil im selben Beruf, wirken die beiden anderen Protagonisten des Films: Flavio Fornasa in der Garderobe des Teatro La Scala in Mailand und Ronald Zwanziger in jener der Wiener Staatsoper.
Flavio ist Mitte Fünfzig, hat an der Technischen Universität Mailand studiert und ist hauptberuflich Sicherheitsinspektor bei der nationalen italienischen Eisenbahngesellschaft. Die Suche nach einem zusätzlichen Teilzeitjob hat ihn an die Scala geführt, wo er zunächst Sicherheitsbeauftragter, dann Billeteur und schließlich seit 2003 Garderobier wurde. Ronald, knapp über siebzig, ist promovierter Indogermanist und war im Hauptberuf Bibliothekar an der Hauptbibliothek der Universität Wien, seit drei Dekaden arbeitet er jedoch zusätzlich abends als Garderobier an der Wiener Staatsoper.
Der Film begleitet den Alltag der drei Garderobiers, ihr Arbeits‑, Freizeit- und Familienleben, zeigt sie im Fitnesscenter, im Nagelstudio, beim Besuch einer Delphinshow mit dem Enkel, beim Schachspiel mit den Kindern, beim Kochen, Essen und Schwimmen. Was sich auf den Bühnen der Opernhäuser abspielt bleibt dabei außen vor und dringt nur gelegentlich beim Öffnen der gepolsterten Türen ans Ohr. Die Bühne, die der Film ihnen bietet, gehört ausschließlich den drei Garderobiers. Ihre kleinen Logen mit den aufgezogenen Vorhängen wirken dabei wie eine Miniaturausgabe der großen Bühnen dieser Häuser. Die Garderobe als Allegorie der Weltbühne. Flavio, der dabei ist, von seiner Arbeit Abschied zu nehmen, resümiert dann auch als wäre er Direktor des Hauses und nicht Hilfskraft: „Insgesamt, wenn ich an meine Zeit an der Scala denke, würde ich überhaupt nichts anders machen […] im Grunde mochte ich es hier, ich war glücklich.“
Berufe, bei denen es uns schwer fällt sie als Berufung wahrzunehmen, und Menschen, die für uns scheinbar unsichtbar ihrer Arbeit nachgehen und denen wir im Allgemeinen keine Beachtung schenken, denen gilt die ganze Aufmerksamkeit des in Rumänien geborenen und in Wien lebenden Filmemachers Pavel Cuzuioc. Seine Hommagen an Berufs- und Lebensalltag rücken gesellschaftliche Ungleichheiten ein Stück zurecht und zeigen, dass das vermeintlich Große auch im Kleinen, dem Einfachem, steckt, und Ersteres oft auch von Letzterem abhängt.
Referenzen:
Cuzuioc, Pavel (O.D), SECONDO ME, Presseheft, abgerufen am 5.10.2020
SECONDO ME, Ein Film von Pavel Cuzuioc, A 2016, 79 Min., DCP, ital./russ./dt. OF mit UT
SECONDO ME, Pavel Cuzuioc, 2016, Österreich, Trailer
Nadezhda Sokhatskaya, Odessa Opera House, Filmstill
© Michael Schindegger, PAVEL CUZUIOC FILMPRODUKTION
Flavio Fornasa – La Scala, Milan. Filmstill
© Michael Schindegger, PAVEL CUZUIOC FILMPRODUKTION
Garderobiers der Weltbühnen
Als ich vor geraumer Zeit an der Universität Tallinn zu tun hatte, es muss kurz nach Estlands EU-Beitritt gewesen sein, war ich fasziniert davon, dass es dort wie im Theater eine Garderobe gab, an der – zumeist ältere Frauen – die Jacken und Mäntel junger Studenten entgegennahmen. Auf der einen Seite war da das Gefühl des Luxus in einem vermeintlich ärmeren Land, auf der anderen Seite die unmittelbar sichtbare Ungleichheit, aber gleichzeitig auch die gesellschaftliche Teilhabe der älteren Generation und direkten Unterstützung der jüngeren – es wirkte jedenfalls wie aus der Zeit gefallen.
Das Pausengespräch der Garderobenfrau und Pensionistin Nadezhda Sokhtskaya mit einer Arbeitskollegin an ihrem Arbeitsplatz im Opernhaus Odessa, dokumentiert im Film „Secondo Me” (2016) von Pavel Cuzuioc, hat genau diesen Eindruck in mir wieder wachgerufen. Ganz anders hingegen, und doch vergleichbar, weil im selben Beruf, wirken die beiden anderen Protagonisten des Films: Flavio Fornasa in der Garderobe des Teatro La Scala in Mailand und Ronald Zwanziger in jener der Wiener Staatsoper.
Flavio ist Mitte Fünfzig, hat an der Technischen Universität Mailand studiert und ist hauptberuflich Sicherheitsinspektor bei der nationalen italienischen Eisenbahngesellschaft. Die Suche nach einem zusätzlichen Teilzeitjob hat ihn an die Scala geführt, wo er zunächst Sicherheitsbeauftragter, dann Billeteur und schließlich seit 2003 Garderobier wurde. Ronald, knapp über siebzig, ist promovierter Indogermanist und war im Hauptberuf Bibliothekar an der Hauptbibliothek der Universität Wien, seit drei Dekaden arbeitet er jedoch zusätzlich abends als Garderobier an der Wiener Staatsoper.
Der Film begleitet den Alltag der drei Garderobiers, ihr Arbeits‑, Freizeit- und Familienleben, zeigt sie im Fitnesscenter, im Nagelstudio, beim Besuch einer Delphinshow mit dem Enkel, beim Schachspiel mit den Kindern, beim Kochen, Essen und Schwimmen. Was sich auf den Bühnen der Opernhäuser abspielt bleibt dabei außen vor und dringt nur gelegentlich beim Öffnen der gepolsterten Türen ans Ohr. Die Bühne, die der Film ihnen bietet, gehört ausschließlich den drei Garderobiers. Ihre kleinen Logen mit den aufgezogenen Vorhängen wirken dabei wie eine Miniaturausgabe der großen Bühnen dieser Häuser. Die Garderobe als Allegorie der Weltbühne. Flavio, der dabei ist, von seiner Arbeit Abschied zu nehmen, resümiert dann auch als wäre er Direktor des Hauses und nicht Hilfskraft: „Insgesamt, wenn ich an meine Zeit an der Scala denke, würde ich überhaupt nichts anders machen […] im Grunde mochte ich es hier, ich war glücklich.“
Berufe, bei denen es uns schwer fällt sie als Berufung wahrzunehmen, und Menschen, die für uns scheinbar unsichtbar ihrer Arbeit nachgehen und denen wir im Allgemeinen keine Beachtung schenken, denen gilt die ganze Aufmerksamkeit des in Rumänien geborenen und in Wien lebenden Filmemachers Pavel Cuzuioc. Seine Hommagen an Berufs- und Lebensalltag rücken gesellschaftliche Ungleichheiten ein Stück zurecht und zeigen, dass das vermeintlich Große auch im Kleinen, dem Einfachem, steckt, und Ersteres oft auch von Letzterem abhängt.
Referenzen:
Cuzuioc, Pavel (O.D), SECONDO ME, Presseheft, abgerufen am 5.10.2020
SECONDO ME, Ein Film von Pavel Cuzuioc, A 2016, 79 Min., DCP, ital./russ./dt. OF mit UT
SECONDO ME, Pavel Cuzuioc, 2016, Österreich, Trailer
Nadezhda Sokhatskaya, Odessa Opera House, Filmstill
© Michael Schindegger, PAVEL CUZUIOC FILMPRODUKTION
Flavio Fornasa – La Scala, Milan. Filmstill
© Michael Schindegger, PAVEL CUZUIOC FILMPRODUKTION
Gundermann: Abgesang auf ein Arbeitsparadigma
Das Biopic ‚Gundermann‘ (2018) erzählt ganz nebenbei auch vom Niedergang des Tagebau in der Lausitz und dem bereits verschwundenen Arbeitsparadigma der DDR.
Wittgenstein stop motion
Ana Vasofs filmische Anekdoten beflügeln die Praxeologie und hinterfragen pointiert unsere Denk- und Verhaltensweisen.
Sorry, Sie haben das Leben verpasst!
Gegen offene Ausbeutung können wir uns wehren. Subtile Formen hingegen sind nicht so leicht erkennbar und schwerer zu bekämpfen.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.