Bossnapping à la Cantona
Die Netflix-Serie Dérapages (Regie ) aus dem Jahr 2020 beruht auf dem 2010 erschienenen Roman „Cadre Noir“ des französischen Erfolgs-Krimiautors und Prix Goncourt Preisträgers Pierre Lemaitre, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist. Die Serie thematisiert Vorkommnisse und Verwerfungen in der Arbeitswelt Frankreichs, die in ihrer Häufigkeit und Härte als Besonderheit gelten können und kulminiert in einer fiktiven Geiselnahme der Unternehmensleitung. Reale Vorbilder liefern Caterpillar (Grenoble 2009), Goodyear Tire & Rubber (Amiens 2014) und in jüngster Zeit Renault (Caudan 2021).
Die großen Belastungen in manchen Bereichen der Arbeitswelt zeigten sich auch am Beispiel France Télécom. Die hier zu verzeichnende hohe Zahl von 34 Selbstmorden in den Jahren 2008 bis 2011 wird – in der Berichterstattung — als Folge der Verabsolutierung ökonomischer Erfolgskriterien, der Umstellung auf projektbasierte Organisation und der Selbstzuschreibung von Misserfolgen seitens der MitarbeiterInnen beschrieben.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung mit der damit einhergehenden Abwanderung von Unternehmen oder Unternehmensteilen ins Ausland, ist der französische Arbeitsmarkt einem besonderen Druck ausgesetzt. In den Jahren 1995 bis 2001 betrugen die Arbeitsplatzverluste durch Auslagerungen im Durchschnitt 13.500 Arbeitsplätze pro Jahr. Die Arbeitslosigkeit erreicht im Jahr 2000 9,56% und im Jahr 2010 9,12%, die Langzeitarbeitslosigkeit im Jahr 2000 42, 56% und im Jahr 2010 40,06% (Aktivbevölkerung).
So viel zum Hintergrund – nun zur Geschichte. Alain Delambre – famos verkörpert von Éric Cantona – ein 57jähriger Langzeitarbeitsloser und ehemaliger Human Relations Manager bewirbt sich über eine Recruiting-Agentur um eine gleichartige Stelle bei einem großen Konzern. Sein Habitus erscheint passend, das Alter spricht zwar gegen ihn, sein Vorteil ist jedoch eine gewisse „Grobheit“, die zum Anforderungsprofil der Stelle passt, da das Unternehmen eine Fabrikschließung bzw. zahlreiche Entlassungen plant und einen/eine Personalmanager:in sucht, um diese in abzuwickeln.
Der Aufnahmetest ist als Rollenspiel mit doppelter Absicht organisiert: führende ManagerInnen des Unternehmens sollen durch eine fingierte Geiselnahme auf ihre Stressresistenz und Loyalität getestet werden. Dem/der Stellenbewerber:in obliegt es, den „falschen“ Geiselnehmern ihre Handlungsweise über Headsets vorzugeben, d.h. die Geiseln in effizienter Weise an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit zu treiben, um ihnen in einer emotionalen Ausnahmesituation Betriebsgeheinisse zu entlocken. Auf diese Weise sollen sich die Kandidatin/der Kandidat qualifizieren.
Damit wird ein Geschehen thematisiert, das sich in ähnlicher Weise tatsächlich ereignet hat: Am 25.Okt. 2005 nehmen 12 Personen der Werbeabteilung von „France Télévisions“ an einem Seminar im Schloss Romainville in Ecquevilly teil. Die Planung obliegt dem Generaldirektor der Abteilung, dessen Absicht es ist, die Stressresistenz seiner engsten MitarbeiterInnen zu testen. Ein Kommando vorgeblicher Terroristen nimmt die Seminarteilnehmer:innen als Geiseln und verlangt eine Million Euro und die Ausstrahlung eines vorbereiteten Videos in einer Nachrichtensendung von „France 2.“
Die Geiselnahme in ‚Dérapages‘ erfolgt wie geplant und Delambre, im Vorfeld des Geschehens davon informiert, dass die begehrte Stelle längst seiner Konkurrentin zugesagt wurde, wahrt vorerst den Anschein und stellt sich der Prozedur.
Er verfolgt jedoch seinen eigenen Plan und nimmt alle Anwesenden als „tatsächliche“ Geiseln. (Dass er diese Situation nutzt, um sich Zugang zu belastenden Unterlagen verschaffen, die es ihm später erlauben sollen, das Unternehmen zu erpressen, ist nur eine der vielen Wendungen der Serie). Es folgt ein Monolog, den Delambre mit den Worten „jetzt sind die Arbeitslosen an der Macht“ beginnt und mit seiner Sichtweise des Geschehens in aggressiver Weise fortsetzt. Bewaffnet mit einer Pistole, wird er gegen jene gewalttätig, die er als Schuldtragende an der allgemeinen und an seiner besonderen Situation zu erkennen meint. Delambre verwandelt damit das gewaltförmige Spiel in gewalttätigen Ernst. Er argumentiert für ein Gleichgewicht der Möglichkeiten und rechtfertigt sein Vorgehen als Notwehr:
„Meine neue Strategie war es , die ihre zu übernehmen. Sie wollten die Manager terrorisieren. Ich machte es genauso. Die haben Waffen benutzt. Meine hatte ich auch dabei. Das war ein Test für ihr Personal. Na und ich wollte sie auch testen. Ich weiß nicht, ob ihr es bemerkt habt, aber eine Firma ist vergleichbar mit dem Wilden Westen. Um zu überleben, muss man immer bewaffnet sein. Und jederzeit schussbereit, falls jemand schießt.’
Die Darstellung des Themas „Rekrutierung“ in ‚Dérapages‘ ist in gewisser Weise nicht zu überbieten: im Verlauf des Geschehens fordert Delambre mit vorgehaltener Pistole seine Einstellung. Dies ist zwar nur als Geste gedacht, setzt jedoch die Umkehr der Macht in Szene, einer Macht, die sonst stets dem Personalmanagement bzw. der Geschäftsführung vorbehalten bleibt. Hier treffen feindliche Lager aufeinander – eine Einigung ist nicht angestrebt und auch nicht möglich; der gewaltförmige Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit beherrscht das Geschehen. Dérapages – wohl nicht zufällig ein Film aus Frankreich?
Dr. Reinhold Gaubitsch ist Politikwissenschafter und war bis zu seiner Pensionierung Projektleiter in der Abteilung Arbeitsmarkt- und Berufsinformation (ABI) des Arbeitsmarktservice Österreich und unter anderem zuständig für Berufsinformationsfilme.
Referenzen:
AFP-Agenturmeldung wiedergegeben in: THESTRAITSTIMES vom 28. 4. 2021, „Boss-napping“ returns as angry French workers seize managers
Aubert, Patrick & Patrick Sillard (2005). Délocalisation et réductions d’effectifs dans l’industrie française, L’économie française: comptes et dossiers, Ed. 2005–2006 pp. 57–89
franceinfo (6.5.2019). Suicides à France Télécom: l’article à lire pour tout comprendre de cette affaire emblématiquede la souffrance au travail
Lemaitre, Pierre (2010). Cadre Noir, Calmann-Lévy Noir
OCDE, Taux de chômage de longue durée
Wessbecher, Louise, Huffpost (23.4.2020). „Dérapages“sur Arte: l’histoire vraie d’une (fausse) prise d’otage chez France Télévisions
Dérapages, FR 2020, Regie: Ziad Doueiri, ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Bossnapping à la Cantona
Die Netflix-Serie Dérapages (Regie ) aus dem Jahr 2020 beruht auf dem 2010 erschienenen Roman „Cadre Noir“ des französischen Erfolgs-Krimiautors und Prix Goncourt Preisträgers Pierre Lemaitre, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist. Die Serie thematisiert Vorkommnisse und Verwerfungen in der Arbeitswelt Frankreichs, die in ihrer Häufigkeit und Härte als Besonderheit gelten können und kulminiert in einer fiktiven Geiselnahme der Unternehmensleitung. Reale Vorbilder liefern Caterpillar (Grenoble 2009), Goodyear Tire & Rubber (Amiens 2014) und in jüngster Zeit Renault (Caudan 2021).
Die großen Belastungen in manchen Bereichen der Arbeitswelt zeigten sich auch am Beispiel France Télécom. Die hier zu verzeichnende hohe Zahl von 34 Selbstmorden in den Jahren 2008 bis 2011 wird – in der Berichterstattung — als Folge der Verabsolutierung ökonomischer Erfolgskriterien, der Umstellung auf projektbasierte Organisation und der Selbstzuschreibung von Misserfolgen seitens der MitarbeiterInnen beschrieben.
Vor dem Hintergrund der Globalisierung mit der damit einhergehenden Abwanderung von Unternehmen oder Unternehmensteilen ins Ausland, ist der französische Arbeitsmarkt einem besonderen Druck ausgesetzt. In den Jahren 1995 bis 2001 betrugen die Arbeitsplatzverluste durch Auslagerungen im Durchschnitt 13.500 Arbeitsplätze pro Jahr. Die Arbeitslosigkeit erreicht im Jahr 2000 9,56% und im Jahr 2010 9,12%, die Langzeitarbeitslosigkeit im Jahr 2000 42, 56% und im Jahr 2010 40,06% (Aktivbevölkerung).
So viel zum Hintergrund – nun zur Geschichte. Alain Delambre – famos verkörpert von Éric Cantona – ein 57jähriger Langzeitarbeitsloser und ehemaliger Human Relations Manager bewirbt sich über eine Recruiting-Agentur um eine gleichartige Stelle bei einem großen Konzern. Sein Habitus erscheint passend, das Alter spricht zwar gegen ihn, sein Vorteil ist jedoch eine gewisse „Grobheit“, die zum Anforderungsprofil der Stelle passt, da das Unternehmen eine Fabrikschließung bzw. zahlreiche Entlassungen plant und einen/eine Personalmanager:in sucht, um diese in abzuwickeln.
Der Aufnahmetest ist als Rollenspiel mit doppelter Absicht organisiert: führende ManagerInnen des Unternehmens sollen durch eine fingierte Geiselnahme auf ihre Stressresistenz und Loyalität getestet werden. Dem/der Stellenbewerber:in obliegt es, den „falschen“ Geiselnehmern ihre Handlungsweise über Headsets vorzugeben, d.h. die Geiseln in effizienter Weise an die Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit zu treiben, um ihnen in einer emotionalen Ausnahmesituation Betriebsgeheinisse zu entlocken. Auf diese Weise sollen sich die Kandidatin/der Kandidat qualifizieren.
Damit wird ein Geschehen thematisiert, das sich in ähnlicher Weise tatsächlich ereignet hat: Am 25.Okt. 2005 nehmen 12 Personen der Werbeabteilung von „France Télévisions“ an einem Seminar im Schloss Romainville in Ecquevilly teil. Die Planung obliegt dem Generaldirektor der Abteilung, dessen Absicht es ist, die Stressresistenz seiner engsten MitarbeiterInnen zu testen. Ein Kommando vorgeblicher Terroristen nimmt die Seminarteilnehmer:innen als Geiseln und verlangt eine Million Euro und die Ausstrahlung eines vorbereiteten Videos in einer Nachrichtensendung von „France 2.“
Die Geiselnahme in ‚Dérapages‘ erfolgt wie geplant und Delambre, im Vorfeld des Geschehens davon informiert, dass die begehrte Stelle längst seiner Konkurrentin zugesagt wurde, wahrt vorerst den Anschein und stellt sich der Prozedur.
Er verfolgt jedoch seinen eigenen Plan und nimmt alle Anwesenden als „tatsächliche“ Geiseln. (Dass er diese Situation nutzt, um sich Zugang zu belastenden Unterlagen verschaffen, die es ihm später erlauben sollen, das Unternehmen zu erpressen, ist nur eine der vielen Wendungen der Serie). Es folgt ein Monolog, den Delambre mit den Worten „jetzt sind die Arbeitslosen an der Macht“ beginnt und mit seiner Sichtweise des Geschehens in aggressiver Weise fortsetzt. Bewaffnet mit einer Pistole, wird er gegen jene gewalttätig, die er als Schuldtragende an der allgemeinen und an seiner besonderen Situation zu erkennen meint. Delambre verwandelt damit das gewaltförmige Spiel in gewalttätigen Ernst. Er argumentiert für ein Gleichgewicht der Möglichkeiten und rechtfertigt sein Vorgehen als Notwehr:
„Meine neue Strategie war es , die ihre zu übernehmen. Sie wollten die Manager terrorisieren. Ich machte es genauso. Die haben Waffen benutzt. Meine hatte ich auch dabei. Das war ein Test für ihr Personal. Na und ich wollte sie auch testen. Ich weiß nicht, ob ihr es bemerkt habt, aber eine Firma ist vergleichbar mit dem Wilden Westen. Um zu überleben, muss man immer bewaffnet sein. Und jederzeit schussbereit, falls jemand schießt.’
Die Darstellung des Themas „Rekrutierung“ in ‚Dérapages‘ ist in gewisser Weise nicht zu überbieten: im Verlauf des Geschehens fordert Delambre mit vorgehaltener Pistole seine Einstellung. Dies ist zwar nur als Geste gedacht, setzt jedoch die Umkehr der Macht in Szene, einer Macht, die sonst stets dem Personalmanagement bzw. der Geschäftsführung vorbehalten bleibt. Hier treffen feindliche Lager aufeinander – eine Einigung ist nicht angestrebt und auch nicht möglich; der gewaltförmige Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit beherrscht das Geschehen. Dérapages – wohl nicht zufällig ein Film aus Frankreich?
Dr. Reinhold Gaubitsch ist Politikwissenschafter und war bis zu seiner Pensionierung Projektleiter in der Abteilung Arbeitsmarkt- und Berufsinformation (ABI) des Arbeitsmarktservice Österreich und unter anderem zuständig für Berufsinformationsfilme.
Referenzen:
AFP-Agenturmeldung wiedergegeben in: THESTRAITSTIMES vom 28. 4. 2021, „Boss-napping“ returns as angry French workers seize managers
Aubert, Patrick & Patrick Sillard (2005). Délocalisation et réductions d’effectifs dans l’industrie française, L’économie française: comptes et dossiers, Ed. 2005–2006 pp. 57–89
franceinfo (6.5.2019). Suicides à France Télécom: l’article à lire pour tout comprendre de cette affaire emblématiquede la souffrance au travail
Lemaitre, Pierre (2010). Cadre Noir, Calmann-Lévy Noir
OCDE, Taux de chômage de longue durée
Wessbecher, Louise, Huffpost (23.4.2020). „Dérapages“sur Arte: l’histoire vraie d’une (fausse) prise d’otage chez France Télévisions
Dérapages, FR 2020, Regie: Ziad Doueiri, ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Dérapages, FR 2020, Filmstill
© ARTE/Netflix
Ostfrauen. Selbstverwirklichung durch Erwerbsbeteiligung
«Du musst als Frau immer besser sein als der beste Mann im Team. Das ist für eine erfolgreiche Frau das Mindestmass wie das funktioniert im Patriarchat.» fasst Maria Gross, Köchin und Gastronomin aus Thüringen, die Situationen von «Ostfrauen» in der gleichnamigen MDR-Dokumentation von Lutz Pehnert zusammen.
Zwischen Wirklichkeit und Werbung. Berufsinfofilme zur Krankenpflege im Wandel der Zeit
Die Bekämpfung des Pflegepersonalnotstands durch Film hat Geschichte. Ein W-o-W Filmabend thematisiert den Wandel des Pflegeberufs anhand von Berufsinformationsfilmen aus den letzten 80 Jahre.
“Zu jeder Zeit“, mit der Kamera Emotionen der Pflegeausbildung durchleuchten
Ein W-o-W Filmabend kontrastiert Berufsinformationsfilme mit dem einfühlsamen Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ (FR 2018) von Nicolas Philibert zur Pflegausbildung im in einem Krankenhaus im Großraum Paris.
Hikikomori — Depression als Rebellion?
Was kann man aus Japans Erfahrung für Europas Umgang mit NEET-Jugendlichen, also jenen die weder in Beschäftigung noch Ausbildung sind, lernen?
W‑o-W Film Screening #1: Pflegenotstand im Scheinwerferlicht
Work-o-Witch veranstaltet am 10. November 2022 einen Filmabend zur Pflegeausbildung. Die Veranstaltung untersucht die Rolle des Films in der Berufsausbildung und als Mittel zur Thematisierung und Bekämpfung des Pflege-(personal-)notstands.
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„Educating Rita“ (1983) ist das unbestrittene filmische Lieblingsbeispiel der Erwachsenenbildungsforschung: selten wurde der soziale Aufstieg über Bildung so facettenreich wie unterhaltsam erzählt. In Zeiten digitaler Lehre lohnt ein Wiedersehen mit Fokus auf der zweiten Hauptrolle, neben Rita, dem Dozenten Frank, alias Michael Caine.