• en
  • de


  • Erwin und Elvira, der oder die Schlachter:in


    Jörg Markowitsch

    Fassbinders herausragendes Melodram „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) ist ein anhaltend aktueller Beitrag zur heutigen Identitätspolitikdebatte und ein eindringliches Ausrufezeichen für anti-stereotype Berufsausübung.

    In meinen Kino­ju­gend­jah­ren zählte Rainer Werner Fass­bin­der zum Pflicht­pro­gramm. Seine Filme hatte man gut zu finden, sonst hatte man von Film nichts ver­stan­den. Ich fand sie gut, aber auch anstren­gend. Seine ersten Filme, „Liebe ist kälter als der Tod“ oder „Kat­zel­ma­cher“ (beide 1969) waren mir viel zu gestellt. Bei seinem letzten Film, „Querelle“ (1982), war ich von der thea­tra­len Insze­nie­rung erst recht ent­täuscht. Jean Genet war damals schließ­lich einer meiner Helden. „Welt am Draht“ (1973) und „Berlin Alex­an­der­platz“ (1980) habe ich leider zu spät, schon völlig seri­en­ver­seucht, gesehen, als dass ich das Visionäre und die Genia­li­tät dieser frühen Mini-Serien ungetrübt genießen hätte können.

    „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) hingegen, hat mich, Mitte zwanzig, völlig para­ly­siert im Kinosaal, dem früheren Star-Kino in Wien, zurück­ge­las­sen. Der Film nimmt auf eine radikale Weise gesell­schaft­li­che Span­nun­gen auf, die auch heute noch aktuell sind: Geschlechts­iden­ti­tät und Dis­kri­mi­nie­rung, Katho­li­zis­mus und Selbst­mord, Bürgertum und Arbei­ter­klas­se, Ober- und Unterwelt, gere­gel­ter und unge­re­gel­ter Alltag, ehrbare und weniger ehrbare Berufe, und natürlich Liebe und Gewalt.

    „In einem Jahr mit 13 Monden“ zeigt die letzten Tage im Leben von Elvira bzw. Erwin Weishaupt (Volker Spengler, großartig!), einer Trans­se­xu­el­len, und macht schon im Vorspann das Haupt­the­ma klar. Elvira ist einsam, sucht sich einem Mann am Frank­fur­ter Stra­ßen­strich und wird von diesem und einer Gruppe Gleich­ge­sinn­ter ver­prü­gelt als dieser ihre Trans­se­xua­li­tät durch­schaut. Sich nach Hause rettend, gehen Demü­ti­gung, Ernied­ri­gung und Schläge nahtlos weiter, diesmal seitens ihres Partners, der sie verlässt. Hilfe und Trost erfährt sie schließ­lich von der Pro­sti­tu­ier­ten Zora (Ingrid Caven), der sie ihre Lebens­ge­schich­te erzählt: „Schlach­ter bin ich gewesen… das habe ich gelernt…das ist mein Beruf“. Trotz einer kürzlich ver­such­ten Wie­der­an­stel­lung im selben Beruf bei der ihr nur Ver­ach­tung ent­ge­gen­schlug, preist Elvira ihre frühere Tätigkeit voller Begeis­te­rung an. „Komm ich zeig’s dir!“ schlägt sie vor, und wir sehen Elvira und Zora ein Schlacht­haus, betreten. Die Szene, die sich da entspinnt, das Zusam­men­spiel von Bild, Text und Musik, rangiert bei mir weit oben auf meiner Liste der Top-Film­sze­nen, noch weit vor jener des Auf­wa­chens mit einem Pfer­de­kopf im Bett. Richard Linklater, ebenfalls dekla­rier­ter Fan des Films, warnt Zuschauer explizit vor dieser Szene (siehe Interview).

    Präzise, fast doku­men­ta­ri­sche Schlacht­haus­bil­der werden untermalt von Musik und Elviras Monolog. Während Blut aus den im Todes­kampf zuckenden Kühen sprudelt, liefert Elviras Stimme aus dem Off einen seltsamen Mix, einmal krei­schend Goethes Torquato Tasso rezi­tie­rend, dann wieder ruhig ihre Geschich­te wei­ter­erzäh­lend. Diese lautet in etwa so: Von der Mutter weg­ge­ge­ben. Auf­ge­zo­gen von Nonnen im Wai­sen­haus. Hätte Gold­schmied lernen wollen. Keine Lehr­stel­le gefunden. Metzger war einfacher. Metz­gers­toch­ter geehe­licht. Kind. Operation in Casa­blan­ca, aus Liebe zu einem Mann, der nichts von Liebe wissen will. Pro­sti­tu­ti­on. Alkohol. Depression.

    Auf Tik Tok gibt es einen Kanal, auf dem sich – primär junge Menschen – zunächst in ihrem Privat- und Frei­zeit­le­ben in Szene setzen, um sich hierauf in ihrem Beruf bzw. ihrer Berufs­klei­dung zu zeigen. Ich stelle mir gerne Elvira vor, wie sie dabei mitmacht, und frage mich, welches Setting sie konkret dafür gewählt hätte.

    PS: Nach 1978 war das Jahr 1992 eines mit dieser beson­de­ren Fass­s­bin­der­schen Mond­kon­stel­la­ti­on. 2027 wird wieder ein solches.

    In einem Jahr mit 13 Monden, Rainer Werner Fassbinder, 1978, Trailer / Deutsch 

    Richard Linklater on In A Year With 13 Moons by Rainer Werner Fassbinder, 2016 

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    Tags

    Erwin und Elvira, der oder die Schlachter:in

    Jörg Markowitsch

    Fassbinders herausragendes Melodram „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) ist ein anhaltend aktueller Beitrag zur heutigen Identitätspolitikdebatte und ein eindringliches Ausrufezeichen für anti-stereotype Berufsausübung.

    In meinen Kino­ju­gend­jah­ren zählte Rainer Werner Fass­bin­der zum Pflicht­pro­gramm. Seine Filme hatte man gut zu finden, sonst hatte man von Film nichts ver­stan­den. Ich fand sie gut, aber auch anstren­gend. Seine ersten Filme, „Liebe ist kälter als der Tod“ oder „Kat­zel­ma­cher“ (beide 1969) waren mir viel zu gestellt. Bei seinem letzten Film, „Querelle“ (1982), war ich von der thea­tra­len Insze­nie­rung erst recht ent­täuscht. Jean Genet war damals schließ­lich einer meiner Helden. „Welt am Draht“ (1973) und „Berlin Alex­an­der­platz“ (1980) habe ich leider zu spät, schon völlig seri­en­ver­seucht, gesehen, als dass ich das Visionäre und die Genia­li­tät dieser frühen Mini-Serien ungetrübt genießen hätte können.

    „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1978) hingegen, hat mich, Mitte zwanzig, völlig para­ly­siert im Kinosaal, dem früheren Star-Kino in Wien, zurück­ge­las­sen. Der Film nimmt auf eine radikale Weise gesell­schaft­li­che Span­nun­gen auf, die auch heute noch aktuell sind: Geschlechts­iden­ti­tät und Dis­kri­mi­nie­rung, Katho­li­zis­mus und Selbst­mord, Bürgertum und Arbei­ter­klas­se, Ober- und Unterwelt, gere­gel­ter und unge­re­gel­ter Alltag, ehrbare und weniger ehrbare Berufe, und natürlich Liebe und Gewalt.

    „In einem Jahr mit 13 Monden“ zeigt die letzten Tage im Leben von Elvira bzw. Erwin Weishaupt (Volker Spengler, großartig!), einer Trans­se­xu­el­len, und macht schon im Vorspann das Haupt­the­ma klar. Elvira ist einsam, sucht sich einem Mann am Frank­fur­ter Stra­ßen­strich und wird von diesem und einer Gruppe Gleich­ge­sinn­ter ver­prü­gelt als dieser ihre Trans­se­xua­li­tät durch­schaut. Sich nach Hause rettend, gehen Demü­ti­gung, Ernied­ri­gung und Schläge nahtlos weiter, diesmal seitens ihres Partners, der sie verlässt. Hilfe und Trost erfährt sie schließ­lich von der Pro­sti­tu­ier­ten Zora (Ingrid Caven), der sie ihre Lebens­ge­schich­te erzählt: „Schlach­ter bin ich gewesen… das habe ich gelernt…das ist mein Beruf“. Trotz einer kürzlich ver­such­ten Wie­der­an­stel­lung im selben Beruf bei der ihr nur Ver­ach­tung ent­ge­gen­schlug, preist Elvira ihre frühere Tätigkeit voller Begeis­te­rung an. „Komm ich zeig’s dir!“ schlägt sie vor, und wir sehen Elvira und Zora ein Schlacht­haus, betreten. Die Szene, die sich da entspinnt, das Zusam­men­spiel von Bild, Text und Musik, rangiert bei mir weit oben auf meiner Liste der Top-Film­sze­nen, noch weit vor jener des Auf­wa­chens mit einem Pfer­de­kopf im Bett. Richard Linklater, ebenfalls dekla­rier­ter Fan des Films, warnt Zuschauer explizit vor dieser Szene (siehe Interview).

    Präzise, fast doku­men­ta­ri­sche Schlacht­haus­bil­der werden untermalt von Musik und Elviras Monolog. Während Blut aus den im Todes­kampf zuckenden Kühen sprudelt, liefert Elviras Stimme aus dem Off einen seltsamen Mix, einmal krei­schend Goethes Torquato Tasso rezi­tie­rend, dann wieder ruhig ihre Geschich­te wei­ter­erzäh­lend. Diese lautet in etwa so: Von der Mutter weg­ge­ge­ben. Auf­ge­zo­gen von Nonnen im Wai­sen­haus. Hätte Gold­schmied lernen wollen. Keine Lehr­stel­le gefunden. Metzger war einfacher. Metz­gers­toch­ter geehe­licht. Kind. Operation in Casa­blan­ca, aus Liebe zu einem Mann, der nichts von Liebe wissen will. Pro­sti­tu­ti­on. Alkohol. Depression.

    Auf Tik Tok gibt es einen Kanal, auf dem sich – primär junge Menschen – zunächst in ihrem Privat- und Frei­zeit­le­ben in Szene setzen, um sich hierauf in ihrem Beruf bzw. ihrer Berufs­klei­dung zu zeigen. Ich stelle mir gerne Elvira vor, wie sie dabei mitmacht, und frage mich, welches Setting sie konkret dafür gewählt hätte.

    PS: Nach 1978 war das Jahr 1992 eines mit dieser beson­de­ren Fass­s­bin­der­schen Mond­kon­stel­la­ti­on. 2027 wird wieder ein solches.

    In einem Jahr mit 13 Monden, Rainer Werner Fassbinder, 1978, Trailer / Deutsch

    Richard Linklater on In A Year With 13 Moons by Rainer Werner Fassbinder, 2016

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    In einem Jahr mit 13 Monden, 1978, Filmstill

    Tags


    Die alte Angst vor dem Ende der neuen Arbeit

    Die alte Angst vor dem Ende der neuen Arbeit

    Jeder freut sich auf das Ende eines Arbeitstages, aber nicht über das Ende der Arbeit selbst. Die Furcht vor der Automatisierung und dem Ende der Arbeit ist ein alter Topos, wie etwa auch Werbefilme der 1950er Jahre bezeugen.

    Superkräfte im Job

    Super­kräf­te im Job

    Was tun mit übermenschlichen Fähigkeiten im Job? Die bekannten Superhelden geben dazu wenig Auskunft. Ein Troll in einem der außergewöhnlichsten schwedischen Filme der letzten Jahre (Border, 2018) umso mehr.

    Als die Wirtschaftsbilder laufen lernten

    Als die Wirt­schafts­bil­der laufen lernten

    Ein aktuelles Buch stellt uns den bedeutenden Erkenntnistheoretiker Michael Polanyi als Wirtschaftsdidaktiker vor und erinnert an seinen noch heute sehenswerten Lehrfilm „Unemployment and Money“ (1940).

    Adolf Hennecke - Held der Produktionsschlacht

    Adolf Hennecke — Held der Produktionsschlacht

    Wo die Arbeit und das Heroische verschmelzen: Die Glorifizierung der Arbeit im Realsozialismus.

    Die Gesten der Bäcker: ein professioneller Klassiker?

    Die Gesten der Bäcker: ein pro­fes­sio­nel­ler Klassiker?

    Im zeitgenössischen Kino hinterfragen wir selten die völlig aus der Zeit gefallene Bilder von Bäckern und Bäckerinnen bei ihrer Arbeit in der Backstube, etwa in Antoine Fontaines «Gemma Bovery» von 2014 (Gemma Bovery - Bande annonce - YouTube) oder Luke Jins Kurzfilm «La Boulangerie» von 2017 (La Boulangerie (Short Film) on Vimeo). Sollten wir aber!

    Essential Workers vs. Bullshit-Jobs

    Essential Workers vs. Bullshit-Jobs

    Wie wird die Covid-19 Pandemie unsere Berufswelt verändern? Werden Systemerhalter*innen künftig mehr wertgeschätzt oder nehmen 'Bullshit-Jobs' weiter zu?  

    1 25 26 27 28 29 48