Essential Workers vs. Bullshit-Jobs
Selten zuvor hat sich der Blick auf den eigenen Beruf, vor allem jedoch auf den Beruf der Anderen, so sehr versch®oben wie zur Zeit des ersten Lockdowns während der COVID-19 Pandemie. Diejenigen, die sich im Lockdown nicht einmal Urlaub nehmen konnten, wünschten sich ins Home-Office der anderen. Die Zuhause-Bleibenden und Begünstigten vergingen in Ehrfurcht vor denen, die Dienst schoben und dankten Gott oder ihrem Schicksal, dass sie nicht an ihrer Stelle waren: Supermarktkassiererinnen, Apothekergehilfinnen, Sozialbetreuerinnen, Pflegerinnen, Erntehelferinnen und Erntehelfer, Ärztinnen und Ärzte, Polizisten, Postler, Mechaniker, Müllentsorger und viele mehr.
Was ist den Berufen und Aufgaben, die nun allerorts als Systemerhalter*innen („Essential Workers“) im Fokus stehen, gemein? Mehrheitlich von Frauen ausgeübt und schlecht bezahlt, mag man meinen. Aber die Ausnahmen bestätigen die Regel (Müllentsorger, Grundwehrdiener: männlich; Ärzte, Apotheker: gut bezahlt). Was also dann sind die Gemeinsamkeiten?
Es sind alles keine „Bullshit-Jobs“, wie David Graeber die Tätigkeiten jener nennen würde, die während des Lockdowns zu Hause arbeiten dürfen oder in Kurzarbeit sind. Graeber war bekennender Anarchist, Bestseller-Autor (2012: Schulden, 2015: Bürokratie 2015, 2018: Bullshit Jobs) und vor allem Kulturanthropologe. Als solcher zählt ein relativierender Blick und das in Frage stellen von Werten zum methodischen Handwerkszeug.
Unter Bullshit-Jobs versteht Graeber Jobs, die so sinnlos, unnötig oder gar schädlich sind, dass selbst jene die sie ausüben, ihre Existenz nicht rechtfertigen können. Er schätzt den Anteil der Bullshit-Jobs auf etwa 20–30 % aller Arbeitsplätze. Diese Bullshit-Jobs sind aber nicht zu verwechseln mit „Shit-Jobs“, also unterbezahlten Jobs, die keiner machen will. Bullshit-Jobs hingegen sind meist qualifizierte, gut bezahlte Tätigkeiten, die in Wirklichkeit aber keiner braucht. Graeber liefert eine lange Liste an Beispielen, die von Lobbyist*innen, PR-Leuten, Firmenanwält*innen bis hin zu Soldaten*innen reicht, sowie auch eine lesenswerte Typologie von Bullshit-Jobs bestehend aus fünf Typen (man erforsche: „Flunkies“, „Goons“, „Duct Tapers“, „Box Tickers“ und „Taskmasters“).
Graeber behauptet, dass sinnvolle Jobs immer stärker durch Bullshit-Jobs ersetzt werden und es einer grundlegenden Neubewertung von Arbeit bedarf, die deren Sinnhaftigkeit ins Zentrum rückt. Seine Argumente im O‑Ton und in aller Kürze illustriert der Animationsfilm „The Value of Work.
Graebers Thesen treffen sichtlich einen Nerv, aber leider nicht den Punkt. Es sind nicht bestimmte Berufe oder Jobs an sich, die als sinnlos wahrgenommen werden, sondern bestimmte Tätigkeiten. So besehen gibt es wohl nur drei Kategorien von Tätigkeiten: jene, die sinnvoll und wesentlich sind; dann jene, die sinnvoll aber nicht-wesentlichen sind; und letztlich die tatsächlich geisttötenden, sinnlosen, also solche die weder der Gesellschaft noch dem Individuum etwas bedeuten.
Der Fall Desnard ist für letzteren Typ bezeichnend. Frédéric Desnard verklagt seinen Arbeitgeber erfolgreich, weil ihn die Langeweile im Job krank machte (The Guardian 2016, The Times 2020).
Die Covid-19 Krise wurde zum Lackmustest für die Wesentlichkeit von Tätigkeiten und Graeber’s Ansatz. Ich befürchte jedoch, dass die spontane Wertschätzung von Systemerhalter*innen, insbesondere von sogenannte ‚Frontline-Workers‘ (eine spezifische benachteiligte Untergruppe der Essential Workers; Blau, Koebe, und Meyerhofer 2020) nur ein kurzes gesellschaftliches Aufflackern darstellt. Wenngleich ich mir wünschen würde, dass die unzähligen Porträts dieser Gruppe, die seit dem ersten Lockdown entstanden sind, nachhaltige Wirkung zeigen. Siehe etwa die Serie „Heroes of the Frontline“ des Time Magazin (2021) oder die Foto-Porträtserie samt Interviewpassagen „Workers of Worcester“ (2020). Der Grund meiner Skepsis ist einfach: ein Test für die Sinnhaftigkeit von Tätigkeiten steht noch aus.
Graeber verstarb am 2. September 2020 während einer Urlaubsreise in einem Krankenhaus in Venedig im Alter von 59 Jahren. Ein Zusammenhang mit einer COVID-19 Erkrankung ist nicht auszuschließen.
Referenzen
Blau, Francine D., Josefine Koebe, and Pamela Meyerhofer (2020). “Who are the Essential and Frontline Workers?.” NBER Working Paper w27791 (2020).
Brown, Shan-Estelle, and Zoe Pearson. (2020) “Human Sacrifices, not Heroes: US Essential Workers and the COVID-19 Pandemic.” Essential Labor (2020).
Graeber, David (2018). Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta, Stuttgart.
The Guardian (2016). Frenchman takes former employer to tribunal over tedious job. By Kim Willsher, 2 May 2016.
The Times (2020). Bored French worker wins €50,000 pay-out. By Adam Sage, 9 June 2020,
https://www.workersofworcester.org/
https://time.com/collection/coronavirus-heroes/
David Graeber on the Value of Work, animierter Kurzfilm, Illustration & animation: Jack Dubben, 2016
David Graeber spricht im Zuge der Besetzung des Maagdenhuis dem Verwaltungssitz der Universität Amsterdam vor Student*innen im Frühjahr 2015
© Guido van Nispen
David Graeber inmitten von Student*innen im Zuge der Besetzung des Maagdenhuis, dem Verwaltungssitz der Universität Amsterdam, im Frühjahr 2015
© Guido van Nispen
Abhinav Misra, Pulmonaler Intensivpfleger, Brown University, Rhode Island Hospital; aus der Serie: Workers of Worcester
© Photo von H. Del Rosario
David Graeber on the Value of Work, 2016, Filmstill
© Illustration & animation: Jack Dubben
Essential Workers vs. Bullshit-Jobs
Selten zuvor hat sich der Blick auf den eigenen Beruf, vor allem jedoch auf den Beruf der Anderen, so sehr versch®oben wie zur Zeit des ersten Lockdowns während der COVID-19 Pandemie. Diejenigen, die sich im Lockdown nicht einmal Urlaub nehmen konnten, wünschten sich ins Home-Office der anderen. Die Zuhause-Bleibenden und Begünstigten vergingen in Ehrfurcht vor denen, die Dienst schoben und dankten Gott oder ihrem Schicksal, dass sie nicht an ihrer Stelle waren: Supermarktkassiererinnen, Apothekergehilfinnen, Sozialbetreuerinnen, Pflegerinnen, Erntehelferinnen und Erntehelfer, Ärztinnen und Ärzte, Polizisten, Postler, Mechaniker, Müllentsorger und viele mehr.
Was ist den Berufen und Aufgaben, die nun allerorts als Systemerhalter*innen („Essential Workers“) im Fokus stehen, gemein? Mehrheitlich von Frauen ausgeübt und schlecht bezahlt, mag man meinen. Aber die Ausnahmen bestätigen die Regel (Müllentsorger, Grundwehrdiener: männlich; Ärzte, Apotheker: gut bezahlt). Was also dann sind die Gemeinsamkeiten?
Es sind alles keine „Bullshit-Jobs“, wie David Graeber die Tätigkeiten jener nennen würde, die während des Lockdowns zu Hause arbeiten dürfen oder in Kurzarbeit sind. Graeber war bekennender Anarchist, Bestseller-Autor (2012: Schulden, 2015: Bürokratie 2015, 2018: Bullshit Jobs) und vor allem Kulturanthropologe. Als solcher zählt ein relativierender Blick und das in Frage stellen von Werten zum methodischen Handwerkszeug.
Unter Bullshit-Jobs versteht Graeber Jobs, die so sinnlos, unnötig oder gar schädlich sind, dass selbst jene die sie ausüben, ihre Existenz nicht rechtfertigen können. Er schätzt den Anteil der Bullshit-Jobs auf etwa 20–30 % aller Arbeitsplätze. Diese Bullshit-Jobs sind aber nicht zu verwechseln mit „Shit-Jobs“, also unterbezahlten Jobs, die keiner machen will. Bullshit-Jobs hingegen sind meist qualifizierte, gut bezahlte Tätigkeiten, die in Wirklichkeit aber keiner braucht. Graeber liefert eine lange Liste an Beispielen, die von Lobbyist*innen, PR-Leuten, Firmenanwält*innen bis hin zu Soldaten*innen reicht, sowie auch eine lesenswerte Typologie von Bullshit-Jobs bestehend aus fünf Typen (man erforsche: „Flunkies“, „Goons“, „Duct Tapers“, „Box Tickers“ und „Taskmasters“).
Graeber behauptet, dass sinnvolle Jobs immer stärker durch Bullshit-Jobs ersetzt werden und es einer grundlegenden Neubewertung von Arbeit bedarf, die deren Sinnhaftigkeit ins Zentrum rückt. Seine Argumente im O‑Ton und in aller Kürze illustriert der Animationsfilm „The Value of Work.
Graebers Thesen treffen sichtlich einen Nerv, aber leider nicht den Punkt. Es sind nicht bestimmte Berufe oder Jobs an sich, die als sinnlos wahrgenommen werden, sondern bestimmte Tätigkeiten. So besehen gibt es wohl nur drei Kategorien von Tätigkeiten: jene, die sinnvoll und wesentlich sind; dann jene, die sinnvoll aber nicht-wesentlichen sind; und letztlich die tatsächlich geisttötenden, sinnlosen, also solche die weder der Gesellschaft noch dem Individuum etwas bedeuten.
Der Fall Desnard ist für letzteren Typ bezeichnend. Frédéric Desnard verklagt seinen Arbeitgeber erfolgreich, weil ihn die Langeweile im Job krank machte (The Guardian 2016, The Times 2020).
Die Covid-19 Krise wurde zum Lackmustest für die Wesentlichkeit von Tätigkeiten und Graeber’s Ansatz. Ich befürchte jedoch, dass die spontane Wertschätzung von Systemerhalter*innen, insbesondere von sogenannte ‚Frontline-Workers‘ (eine spezifische benachteiligte Untergruppe der Essential Workers; Blau, Koebe, und Meyerhofer 2020) nur ein kurzes gesellschaftliches Aufflackern darstellt. Wenngleich ich mir wünschen würde, dass die unzähligen Porträts dieser Gruppe, die seit dem ersten Lockdown entstanden sind, nachhaltige Wirkung zeigen. Siehe etwa die Serie „Heroes of the Frontline“ des Time Magazin (2021) oder die Foto-Porträtserie samt Interviewpassagen „Workers of Worcester“ (2020). Der Grund meiner Skepsis ist einfach: ein Test für die Sinnhaftigkeit von Tätigkeiten steht noch aus.
Graeber verstarb am 2. September 2020 während einer Urlaubsreise in einem Krankenhaus in Venedig im Alter von 59 Jahren. Ein Zusammenhang mit einer COVID-19 Erkrankung ist nicht auszuschließen.
Referenzen
Blau, Francine D., Josefine Koebe, and Pamela Meyerhofer (2020). “Who are the Essential and Frontline Workers?.” NBER Working Paper w27791 (2020).
Brown, Shan-Estelle, and Zoe Pearson. (2020) “Human Sacrifices, not Heroes: US Essential Workers and the COVID-19 Pandemic.” Essential Labor (2020).
Graeber, David (2018). Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit. Klett-Cotta, Stuttgart.
The Guardian (2016). Frenchman takes former employer to tribunal over tedious job. By Kim Willsher, 2 May 2016.
The Times (2020). Bored French worker wins €50,000 pay-out. By Adam Sage, 9 June 2020,
https://www.workersofworcester.org/
https://time.com/collection/coronavirus-heroes/
David Graeber on the Value of Work, animierter Kurzfilm, Illustration & animation: Jack Dubben, 2016
David Graeber spricht im Zuge der Besetzung des Maagdenhuis dem Verwaltungssitz der Universität Amsterdam vor Student*innen im Frühjahr 2015
© Guido van Nispen
David Graeber inmitten von Student*innen im Zuge der Besetzung des Maagdenhuis, dem Verwaltungssitz der Universität Amsterdam, im Frühjahr 2015
© Guido van Nispen
Abhinav Misra, Pulmonaler Intensivpfleger, Brown University, Rhode Island Hospital; aus der Serie: Workers of Worcester
© Photo von H. Del Rosario
David Graeber on the Value of Work, 2016, Filmstill
© Illustration & animation: Jack Dubben
Das Ich im Haar: Über das Können von Friseur*innen
Der Schlüssel zur gelungenen Frisur liegt freilich im Können der Friseur*innen. Doch die haarige Kunst erschöpft sich nicht im Instrumentellen, sondern bezieht die ‚Kulturalität‘ des Haars mit ein. Eine zeitgemäße Kritik eines traditionellen Berufsbildes.
Efficiency kills
Der 2017 verstorbene US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol fand heraus, warum das Effizienzprinzip den Dienstleistungssektor kaputt macht – und letztlich Covid-Todesopfer mitverantwortet.
Plädoyer für autochthone Bildungssysteme
"In my blood it runs" (2019) ist ein intimes Porträt eines Aborigine-Jungen und seiner Familie sowie Zeugnis der eklatanten Mängel des australischen Bildungssystems im Umgang mit der indigenen Bevölkerung Australiens.
Zwangsarbeit bis über den Tod hinaus
Eine kapitalismuskritische Lesart des Zombiefilms anlässlich des Erscheinens von Zombi Child (2019) von Bertrand Bonello.
Vergleichende Arbeitsforschung mit der Kamera: Darcy Lange
Der Künstler Darcy Lange lieferte mit der Kamera bedeutendes wissenschaftliches Material zu Arbeit und Bildung, das es in der Sozial- und Bildungsforschung noch aufzuarbeiten gilt.
Gesellschaft ohne Anschluss
Der neue Film „Bitte Warten“ (2020) von Pavel Cuzuioc begleitet die Arbeit von Servicetechnikern in der Telekommunikationsbranche im äußersten Osten Europas und porträtiert dabei doch mehr deren Kunden. Leute, die den Anschluss zu verlieren drohen.