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  • “Frauen im Lauf­git­ter”. Weibliche Rol­len­bil­der und die Schweizer Berufsbildung


    Philipp Gonon

    Eine kleine, aber feine Ausstellung zur Schweizer Autorin Iris von Roten im Literatur-Museum Strauhof in Zürich, wirft Fragen zu Inklusion und Gender in der Schweizer Berufsbildung auf – damals wie heute.

    Iris von Roten (1917–1990) war aus­ge­bil­de­te Juristin und Femi­nis­tin der Vor-68er Zeit. Sie setzte sich u.a. für das Frau­en­stimm­recht ein, das ja dann in der Schweiz – sage und schreibe – 1971 (!) ein­ge­führt wurde. Es ist aus heutiger Sicht schwer begreif­lich, dass darüber hinaus erst 1981 die Gleich­stel­lung von Mann und Frau in der Schweizer Bun­des­ver­fas­sung verankert wurde. 1988 wurde außerdem – nach einer zähen aber dann doch erfolg­rei­chen Abstim­mungs­kam­pa­gne (1985) — ein neues Eherecht ein­ge­führt, welches nun nicht mehr den Mann als Oberhaupt der Familie betrach­te­te. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Ehefrau nicht ver­trags­be­rech­tigt, sie durfte kein eigenes Konto eröffnen und konnte nicht ohne Ein­wil­li­gung des Ehemannes einer Erwerbs­ar­beit nachgehen.

    Die Rolle der Frau war also in Beruf und Gesell­schaft an klare Grenzen gebunden. Die Stimmung und Dis­kus­si­ons­la­ge rund um die Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts gibt auch der erfolg­rei­che und gewitzte Spielfilm «Die göttliche Ordnung» (2017) von Petra Volpe treffend wider, bringt damit auch einer jüngeren Genera­ti­on die damaligen und scheinbar weit zurück­lie­gen­den Aus­ein­an­der­set­zun­gen nahe.

    Dieses ein­ge­heg­te Frau­en­bild auf­zu­bre­chen, versuchte Iris von Roten mit ihrem 1958 erschie­nen Buch «Frauen im Lauf­git­ter», das als skandalös betrach­tet wurde und ihr heftige Reak­tio­nen, heute würde man sagen, einen regel­rech­ten «Shitstorm» ein­brach­te. Die Infra­ge­stel­lung einer spe­zi­fi­schen Anders­ar­tig­keit von Frauen, für die nur eine abge­son­der­te Sphäre abseits von Politik, Öffent­lich­keit und unter Aus­schluss aus einem großen Teil der Arbeits­welt­tä­tig­kei­ten vor­ge­se­hen war, wurde als unge­heu­er­li­cher Angriff gewertet.

    Neben Themen wie «Frau und Liebe», «Mut­ter­schaft», «Haushalt» und – so die Beti­te­lun­gen der einzelnen Kapitel – ein «Volk von Brüdern ohne Schwes­tern» widmet sie der weib­li­chen Erwerbs- und «Berufs­tä­tig­keit in einer Män­ner­welt» ein großes Kapitel.

    Welche Berufs­we­ge standen Frauen denn in den 50er Jahren offen? Eigent­lich nur Berufe und Tätig­kei­ten, die für Männer nicht von Interesse waren und welche die sub­al­ter­ne Rolle der Frauen nicht in Frage stellten. Frauen sollten Frauen sein, die vor allem zu Hause die Haus­ar­beit ver­rich­ten. Wenn sie aber denn doch berufs­tä­tig waren, so sollten sie vor allem in drei Berufs­fel­dern tätig sein, nämlich als

    die «Ser­vier­toch­ter»,
    die «Kran­ken­schwes­ter»,
    oder das «Büro­f­räu­lein», oder aber als
    die Ange­stell­te im Bun­des­haus in Bern mit Heiratsverbot.

    Die von der Autorin sprach­ge­wal­tig for­mu­lier­te Situation von Frauen im Beruf wurde im ersten Aus­stel­lungs­raum im Strauhof aus­führ­lich dar­ge­stellt und visua­li­siert. Die zuge­wie­se­nen Berufs­tä­tig­kei­ten werden durch vier Schau­spie­le­rin­nen, in Lebens­grö­ße in allen Details wort­ge­treu geschil­dert und auf Video fest­ge­hal­ten (kuratiert von Mass&Fieber). Mit den ver­film­ten State­ments lässt sich per­for­ma­tiv die beruf­li­che Situation und Stellung in der Arbeits­welt von Frauen damals nach­voll­zie­hen und mensch fragt sich unwill­kür­lich wie die Situation sich denn heute darstellt.

    All diese zudie­nen­den, pfle­gen­den und die männ­li­chen Herr­schaf­ten bestä­ti­gen­den Rollen waren praktisch bis vor kurzem sozusagen eine der wenigen Mög­lich­kei­ten für Frauen, außerhalb des Hauses und der Familie einen (Zu-)Verdienst zu erwerben – natürlich weit unter dem Lohn­ni­veau der Männer. Iris von Roten weist etwa auch darauf hin, dass der Kauf­män­ni­sche Verband Schweiz, erst 1905, viele Jahre nach seiner Gründung im Jahr 1873, die im gleichen Beruf tätigen Frauen als Mit­glie­der akzeptierte.

    Bis in die 1960er Jahre wurde der steigende Anteil an Frauen in kauf­män­ni­schen Berufen kritisch beäugt. Anläss­lich der Vor­be­rei­tung zu einem kan­to­na­len Gesetz betref­fend den Vollzug des Bun­des­ge­set­zes über die Berufs­bil­dung (vom 3. Dezember 1967) stellte die Zürcher Volks­wirt­schafts­di­rek­ti­on mit einer gewissen Besorgnis fest, dass als «Ent­wick­lungs­ten­denz» immer deut­li­cher sichtbar werde, «dass der Anteil der Lehr­töch­ter stets» anwachse. So sei der weibliche Anteil der neu ein­ge­tre­te­nen Schü­ler­schaft an kauf­män­ni­schen Berufs­schu­len auf 60% ange­stie­gen, ja an gewissen Berufs­schu­len betrage ihr Anteil Zwei­drit­tel. Der Entwurf zum eid­ge­nös­si­schen Nor­mal­lehr­plan sehe «deshalb eine Zwei­tei­lung der kauf­män­ni­schen Lehre in eine buchhalterisch/rechnerische und eine sprachlich/bürotechnische Richtung vor. Die zweit­ge­nann­te Aus­bil­dungs­mög­lich­keit ist vor allem für den weib­li­chen Nachwuchs bestimmt, der sich haupt­säch­lich mit Kor­re­spon­denz und Sekre­ta­ri­ats­ar­bei­ten zu befassen hat» (Direktion der Volks­wirt­schaft 1967, S. 186).

    Auch in der Berufs­bil­dung mussten Frauen ihren Platz oft gegen viele Wider­stän­de «erar­bei­ten». Gerade der Anstieg regulärer Berufs­bil­dun­gen in der Phase der noch folgenden Hoch­kon­junk­tur und die Bil­dungs­ex­pan­si­on haben dazu bei­getra­gen, Frauen in der Arbeits­welt und in der Öffent­lich­keit «sicht­ba­rer» zu machen. Aller­dings frage ich mich, ob wir heute tat­säch­lich so viel weiter sind, und ob das beruf­li­che Narrativ des Dienens, Hegens und Pflegens nicht bis in die heutigen Berufs­tä­tig­kei­ten quasi als Subtext mitspielt, trotz gen­der­ge­rech­ter Sprache? Denn immer noch werden die meisten Berufe mit stark weib­li­cher Präsenz – wie eh und je – im Bereich der Pflege, des Verkaufs und in den kauf­män­ni­schen Tätig­kei­ten gewählt. Bezeich­nen­der­wei­se ist bis heute auch die Ent­loh­nung in diesen (ehe­ma­li­gen und heutigen «Frauen»-)Berufen am unteren Ende der qua­li­fi­zier­ten Ausbildungen.

    Bestand für einige Berufe die angeb­li­che Gefahr eines Zuviels an Bewer­be­rin­nen, so besteht heute die Sorge, dass zu wenig junge Frauen Interesse an Berufen außerhalb des aka­de­mi­schen Tätig­keits­spek­trums bekunden. Die Fach­kräf­te­man­gel­dis­kus­si­on rund um die Berufs­ma­tu­ri­tät und die im aka­de­mi­schen Bereich daran anschlie­ßen­de seit einigen Jahren auf­kei­men­de Debatte bezüglich fehlender Fach­kräf­te im MINT-Bereich (Mathe­ma­tik, Infor­ma­tik, Natur­wis­sen­schaf­ten, Technik) führt dazu, neue Wege und Mög­lich­kei­ten in Erwägung zu ziehen, sei es in der Berufs­bil­dung oder in den Gymnasien.

    Im Vor­der­grund steht die Frage, wie die „gen­der­ty­pi­schen“ fächer­be­zo­ge­nen Wahlen und späteren Berufs- und Kar­rie­re­ent­schei­dun­gen justiert werden könnten. In diesem Rahmen ist vor allem das Ent­schei­dungs­ver­hal­ten junger Frauen von Interesse, denn der Anteil in Inge­nieur­be­ru­fen sei viel zu tief, ins­be­son­de­re auch im Vergleich mit dem Anteil von Inge­nieu­rin­nen in anderen Ländern (siehe Gonon 2023: Ein Handwerk studieren, S. 183 ff.). Es scheint „Not am Mann“ zu sein, wenn Frauen heute auf­ge­for­dert werden, doch bitte Infor­ma­tik und Technik stärker als Berufs­per­spek­ti­ve in Betracht zu ziehen. Die Zuwei­sun­gen und Zuschrei­bun­gen auf ein beruflich bestimm­tes Frau­en­bild, wie ein­drück­lich in den Video­se­quen­zen dargelegt, erweisen sich hierbei als in keinerlei Weise zu recht­fer­ti­gen­de Barriere. Einer solchen mentalen Ent­fes­se­lung Vorschub geleistet zu haben mit dem Appell aus dem Lauf­git­ter aus­zu­bre­chen, verdanken wir Iris von Rotens auf­rüt­teln­der — und im Strauhof visua­li­sier­ten — Darstellung.

    Philipp C. Gonon ist eme­ri­tier­ter Professor für Berufs­bil­dung an der Uni­ver­si­tät Zürich mit Schwer­punkt auf inter­na­tio­nal ver­glei­chen­de Bil­dungs­po­li­tik und his­to­ri­sche Bil­dungs­for­schung sowie Filmfan.

    Refe­ren­zen:
    Roten I. (2020). Frauen im Lauf­git­ter. Zürich eFeF Verlag
    Gonon, P. (2023) Ein Handwerk studieren. Bern: hep
    Zürcher Volks­wirt­schafts­di­rek­ti­on (1967). Geschäfts­be­richt – Beruf­li­ches Bil­dungs­we­sen, S. 183–189. Zürich

    Schwesternberufe, CH, 2021, 5min, Mass&Fieber, Museum Strauhof 

    Fräuleinberufe, CH, 2021, Mass&Fieber, Museum Strauhof 

    Die göttliche Ordnung (CH 2016, Petra Volpe),Trailer 

    Filmstill, Die ureigene Natur der Frau – Frauen, Mädchen, Töchterberufe, 2021

    Filmstill/Set, Die ureigene Natur der Frau – Frauen, Mädchen, Töchterberufe, 2021

    Austellungsansicht, Iris von Roten – Frauen im Laufgitter, Museum Strauhof, Zürich, 2021

    Iris von Roten

    Originalausgabe, 1958booklooker

    Tags

    “Frauen im Lauf­git­ter”. Weibliche Rol­len­bil­der und die Schweizer Berufsbildung

    Philipp Gonon

    Eine kleine, aber feine Ausstellung zur Schweizer Autorin Iris von Roten im Literatur-Museum Strauhof in Zürich, wirft Fragen zu Inklusion und Gender in der Schweizer Berufsbildung auf – damals wie heute.

    Iris von Roten (1917–1990) war aus­ge­bil­de­te Juristin und Femi­nis­tin der Vor-68er Zeit. Sie setzte sich u.a. für das Frau­en­stimm­recht ein, das ja dann in der Schweiz – sage und schreibe – 1971 (!) ein­ge­führt wurde. Es ist aus heutiger Sicht schwer begreif­lich, dass darüber hinaus erst 1981 die Gleich­stel­lung von Mann und Frau in der Schweizer Bun­des­ver­fas­sung verankert wurde. 1988 wurde außerdem – nach einer zähen aber dann doch erfolg­rei­chen Abstim­mungs­kam­pa­gne (1985) — ein neues Eherecht ein­ge­führt, welches nun nicht mehr den Mann als Oberhaupt der Familie betrach­te­te. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Ehefrau nicht ver­trags­be­rech­tigt, sie durfte kein eigenes Konto eröffnen und konnte nicht ohne Ein­wil­li­gung des Ehemannes einer Erwerbs­ar­beit nachgehen.

    Die Rolle der Frau war also in Beruf und Gesell­schaft an klare Grenzen gebunden. Die Stimmung und Dis­kus­si­ons­la­ge rund um die Ein­füh­rung des Frau­en­stimm­rechts gibt auch der erfolg­rei­che und gewitzte Spielfilm «Die göttliche Ordnung» (2017) von Petra Volpe treffend wider, bringt damit auch einer jüngeren Genera­ti­on die damaligen und scheinbar weit zurück­lie­gen­den Aus­ein­an­der­set­zun­gen nahe.

    Dieses ein­ge­heg­te Frau­en­bild auf­zu­bre­chen, versuchte Iris von Roten mit ihrem 1958 erschie­nen Buch «Frauen im Lauf­git­ter», das als skandalös betrach­tet wurde und ihr heftige Reak­tio­nen, heute würde man sagen, einen regel­rech­ten «Shitstorm» ein­brach­te. Die Infra­ge­stel­lung einer spe­zi­fi­schen Anders­ar­tig­keit von Frauen, für die nur eine abge­son­der­te Sphäre abseits von Politik, Öffent­lich­keit und unter Aus­schluss aus einem großen Teil der Arbeits­welt­tä­tig­kei­ten vor­ge­se­hen war, wurde als unge­heu­er­li­cher Angriff gewertet.

    Neben Themen wie «Frau und Liebe», «Mut­ter­schaft», «Haushalt» und – so die Beti­te­lun­gen der einzelnen Kapitel – ein «Volk von Brüdern ohne Schwes­tern» widmet sie der weib­li­chen Erwerbs- und «Berufs­tä­tig­keit in einer Män­ner­welt» ein großes Kapitel.

    Welche Berufs­we­ge standen Frauen denn in den 50er Jahren offen? Eigent­lich nur Berufe und Tätig­kei­ten, die für Männer nicht von Interesse waren und welche die sub­al­ter­ne Rolle der Frauen nicht in Frage stellten. Frauen sollten Frauen sein, die vor allem zu Hause die Haus­ar­beit ver­rich­ten. Wenn sie aber denn doch berufs­tä­tig waren, so sollten sie vor allem in drei Berufs­fel­dern tätig sein, nämlich als

    die «Ser­vier­toch­ter»,
    die «Kran­ken­schwes­ter»,
    oder das «Büro­f­räu­lein», oder aber als
    die Ange­stell­te im Bun­des­haus in Bern mit Heiratsverbot.

    Die von der Autorin sprach­ge­wal­tig for­mu­lier­te Situation von Frauen im Beruf wurde im ersten Aus­stel­lungs­raum im Strauhof aus­führ­lich dar­ge­stellt und visua­li­siert. Die zuge­wie­se­nen Berufs­tä­tig­kei­ten werden durch vier Schau­spie­le­rin­nen, in Lebens­grö­ße in allen Details wort­ge­treu geschil­dert und auf Video fest­ge­hal­ten (kuratiert von Mass&Fieber). Mit den ver­film­ten State­ments lässt sich per­for­ma­tiv die beruf­li­che Situation und Stellung in der Arbeits­welt von Frauen damals nach­voll­zie­hen und mensch fragt sich unwill­kür­lich wie die Situation sich denn heute darstellt.

    All diese zudie­nen­den, pfle­gen­den und die männ­li­chen Herr­schaf­ten bestä­ti­gen­den Rollen waren praktisch bis vor kurzem sozusagen eine der wenigen Mög­lich­kei­ten für Frauen, außerhalb des Hauses und der Familie einen (Zu-)Verdienst zu erwerben – natürlich weit unter dem Lohn­ni­veau der Männer. Iris von Roten weist etwa auch darauf hin, dass der Kauf­män­ni­sche Verband Schweiz, erst 1905, viele Jahre nach seiner Gründung im Jahr 1873, die im gleichen Beruf tätigen Frauen als Mit­glie­der akzeptierte.

    Bis in die 1960er Jahre wurde der steigende Anteil an Frauen in kauf­män­ni­schen Berufen kritisch beäugt. Anläss­lich der Vor­be­rei­tung zu einem kan­to­na­len Gesetz betref­fend den Vollzug des Bun­des­ge­set­zes über die Berufs­bil­dung (vom 3. Dezember 1967) stellte die Zürcher Volks­wirt­schafts­di­rek­ti­on mit einer gewissen Besorgnis fest, dass als «Ent­wick­lungs­ten­denz» immer deut­li­cher sichtbar werde, «dass der Anteil der Lehr­töch­ter stets» anwachse. So sei der weibliche Anteil der neu ein­ge­tre­te­nen Schü­ler­schaft an kauf­män­ni­schen Berufs­schu­len auf 60% ange­stie­gen, ja an gewissen Berufs­schu­len betrage ihr Anteil Zwei­drit­tel. Der Entwurf zum eid­ge­nös­si­schen Nor­mal­lehr­plan sehe «deshalb eine Zwei­tei­lung der kauf­män­ni­schen Lehre in eine buchhalterisch/rechnerische und eine sprachlich/bürotechnische Richtung vor. Die zweit­ge­nann­te Aus­bil­dungs­mög­lich­keit ist vor allem für den weib­li­chen Nachwuchs bestimmt, der sich haupt­säch­lich mit Kor­re­spon­denz und Sekre­ta­ri­ats­ar­bei­ten zu befassen hat» (Direktion der Volks­wirt­schaft 1967, S. 186).

    Auch in der Berufs­bil­dung mussten Frauen ihren Platz oft gegen viele Wider­stän­de «erar­bei­ten». Gerade der Anstieg regulärer Berufs­bil­dun­gen in der Phase der noch folgenden Hoch­kon­junk­tur und die Bil­dungs­ex­pan­si­on haben dazu bei­getra­gen, Frauen in der Arbeits­welt und in der Öffent­lich­keit «sicht­ba­rer» zu machen. Aller­dings frage ich mich, ob wir heute tat­säch­lich so viel weiter sind, und ob das beruf­li­che Narrativ des Dienens, Hegens und Pflegens nicht bis in die heutigen Berufs­tä­tig­kei­ten quasi als Subtext mitspielt, trotz gen­der­ge­rech­ter Sprache? Denn immer noch werden die meisten Berufe mit stark weib­li­cher Präsenz – wie eh und je – im Bereich der Pflege, des Verkaufs und in den kauf­män­ni­schen Tätig­kei­ten gewählt. Bezeich­nen­der­wei­se ist bis heute auch die Ent­loh­nung in diesen (ehe­ma­li­gen und heutigen «Frauen»-)Berufen am unteren Ende der qua­li­fi­zier­ten Ausbildungen.

    Bestand für einige Berufe die angeb­li­che Gefahr eines Zuviels an Bewer­be­rin­nen, so besteht heute die Sorge, dass zu wenig junge Frauen Interesse an Berufen außerhalb des aka­de­mi­schen Tätig­keits­spek­trums bekunden. Die Fach­kräf­te­man­gel­dis­kus­si­on rund um die Berufs­ma­tu­ri­tät und die im aka­de­mi­schen Bereich daran anschlie­ßen­de seit einigen Jahren auf­kei­men­de Debatte bezüglich fehlender Fach­kräf­te im MINT-Bereich (Mathe­ma­tik, Infor­ma­tik, Natur­wis­sen­schaf­ten, Technik) führt dazu, neue Wege und Mög­lich­kei­ten in Erwägung zu ziehen, sei es in der Berufs­bil­dung oder in den Gymnasien.

    Im Vor­der­grund steht die Frage, wie die „gen­der­ty­pi­schen“ fächer­be­zo­ge­nen Wahlen und späteren Berufs- und Kar­rie­re­ent­schei­dun­gen justiert werden könnten. In diesem Rahmen ist vor allem das Ent­schei­dungs­ver­hal­ten junger Frauen von Interesse, denn der Anteil in Inge­nieur­be­ru­fen sei viel zu tief, ins­be­son­de­re auch im Vergleich mit dem Anteil von Inge­nieu­rin­nen in anderen Ländern (siehe Gonon 2023: Ein Handwerk studieren, S. 183 ff.). Es scheint „Not am Mann“ zu sein, wenn Frauen heute auf­ge­for­dert werden, doch bitte Infor­ma­tik und Technik stärker als Berufs­per­spek­ti­ve in Betracht zu ziehen. Die Zuwei­sun­gen und Zuschrei­bun­gen auf ein beruflich bestimm­tes Frau­en­bild, wie ein­drück­lich in den Video­se­quen­zen dargelegt, erweisen sich hierbei als in keinerlei Weise zu recht­fer­ti­gen­de Barriere. Einer solchen mentalen Ent­fes­se­lung Vorschub geleistet zu haben mit dem Appell aus dem Lauf­git­ter aus­zu­bre­chen, verdanken wir Iris von Rotens auf­rüt­teln­der — und im Strauhof visua­li­sier­ten — Darstellung.

    Philipp C. Gonon ist eme­ri­tier­ter Professor für Berufs­bil­dung an der Uni­ver­si­tät Zürich mit Schwer­punkt auf inter­na­tio­nal ver­glei­chen­de Bil­dungs­po­li­tik und his­to­ri­sche Bil­dungs­for­schung sowie Filmfan.

    Refe­ren­zen:
    Roten I. (2020). Frauen im Lauf­git­ter. Zürich eFeF Verlag
    Gonon, P. (2023) Ein Handwerk studieren. Bern: hep
    Zürcher Volks­wirt­schafts­di­rek­ti­on (1967). Geschäfts­be­richt – Beruf­li­ches Bil­dungs­we­sen, S. 183–189. Zürich

    Schwesternberufe, CH, 2021, 5min, Mass&Fieber, Museum Strauhof

    Fräuleinberufe, CH, 2021, Mass&Fieber, Museum Strauhof

    Die göttliche Ordnung (CH 2016, Petra Volpe),Trailer

    Filmstill, Die ureigene Natur der Frau – Frauen, Mädchen, Töchterberufe, 2021

    Filmstill/Set, Die ureigene Natur der Frau – Frauen, Mädchen, Töchterberufe, 2021

    Austellungsansicht, Iris von Roten – Frauen im Laufgitter, Museum Strauhof, Zürich, 2021

    Iris von Roten

    Originalausgabe, 1958booklooker

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    (Un-)verantwortliche Arbeit – für uns

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    „Living – einmal wirklich leben“ (2022) ist das britische Remake des Klassikers "Ikiru" von Akira Kurosawa von 1952. Der Film thematisiert ein zentrales Thema der Arbeitswelt: Verantwortung übernehmen. Bill Nighy, vielleicht in der Rolle seines Lebens, Drehbuchautor Ishiguro und der Film an sich wurden für mehrere britische Filmpreise nominiert.

    Ungeschönte Arbeitsrealitäten. Die Lehre als Konservenfacharbeiter

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    Die kritische Betrachtung historischer Berufsinformationsfilme vermag den Blick für große Veränderungen der Berufs- und Arbeitswelt zu schärfen. Warum es sich lohnt einen Schweizer Fernsehbeitrag zum Lehrberuf Konservenfacharbeiter aus den 1960ern genauer anzusehen.

    Dystopien der Arbeitswelt

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    Night Mail - Die Arbeit im Fokus

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    "Night Mail" (1936), vom britischen General Post Office als Imagefilm in Auftrag gegeben, ging als Dokumentarfilm in die Filmgeschichte ein. Die Regisseuren Harry Watt und Basil Wright schafften eine Ode an die Arbeiter und die moderne Technik indem sie ihren naturalistischen Blick mit poetischen Elementen und Menschlichkeit anreichern.

    Night Mail – Der poetische Blick

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    Als der bedeutende Filmwissenschaftler Amos Vogel 1938 aus Wien in die USA fliehen musste, hatte der 17-jährige bereits die Entscheidung getroffen, sein Leben dem Film zu widmen. Das Erlebenis, das sein Zukunft bestimmen sollte, war das Screening von "Night Mail" (1936) und dieser Film weiss auch heute noch zu beeindrucken.

    Bossnapping à la Cantona

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    Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Auseinandersetzungen zwischen Management und Arbeitnehmer:innen in Frankreich deutlich rauer. Das sogenannte "Bossnapping", die Geiselnahme der Geschäftsführung, virtuos von Éric Cantona in der Netflix-Serie 'Dérapages' in Szene gesetzt, liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel.

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