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  • Night Mail — Die Arbeit im Fokus


    Konrad Wakolbinger

    "Night Mail" (1936), vom britischen General Post Office als Imagefilm in Auftrag gegeben, ging als Dokumentarfilm in die Filmgeschichte ein. Die Regisseuren Harry Watt und Basil Wright schafften eine Ode an die Arbeiter und die moderne Technik indem sie ihren naturalistischen Blick mit poetischen Elementen und Menschlichkeit anreichern.

    Der Postal Special verkehrte täglich von London über Glasgow und Edinburgh nach Aberdeen. 40 Post­be­am­te an Bord sor­tier­ten und ver­teil­ten eine halbe Million Briefe während der nächt­li­chen Fahrt. Am Beispiel einer Reise dieses rollenden Postamtes doku­men­tie­ren die Regis­seu­re Watt und Wright das orga­ni­sa­to­ri­sche und tech­ni­sche Raf­fi­ne­ment, sowie die Leistung der Arbeiter von Post und Bahn. “Night Mail” sollte das Publikum beein­dru­cken und so den lädierten Ruf der Royal Mail aufbessern.

    Fahr­dienst­lei­tung, Stellwerk, Gleis­ar­bei­ter, Verladung der Postsäcke, das Koppeln der Waggons. Ein­stel­lung für Ein­stel­lung bauen die Regis­seu­re das Bild einer komplexen Logistik, die wie das sprich­wört­li­che Uhrwerk läuft. Geschwin­dig­keit, Taktung, das Zusam­men­spiel von Technik und Mensch sind die tragenden Elemente dieser Cho­reo­gra­phie der Effizienz. Auch beim Drehen bediente man sich der damals moderns­ten Tech­no­lo­gie, wie die beein­dru­cken­den Flug­auf­nah­men, einmal mit dem Schatten des Flugzeugs im Bild, zeigen. Mit der Verortung des Zugs in der Land­schaft und der Ein­bin­dung der Menschen an der Strecke vermeidet es der Film jedoch, den Postzug als eine sich selbst genügende Maschine dar­zu­stel­len.  Genau so wie Audens Gedicht im Schluss­teil von “Night Train”  deutlich macht, dass dieser Zug Briefe für alle Menschen, in allen Lebens­la­gen transportiert.

    Schliess­lich scheint es den Fil­me­ma­chern wichtig zu sein, die Arbei­ten­den nicht nur als Funk­ti­ons­trä­ger zu zeigen, sondern auch in ihren Bezie­hun­gen unter­ein­an­der als Kollegen, die im Bahn­hofs­ca­fé mit der Kellnerin schäkern, oder wenn sie sich gegen­sei­tig “aufziehen/schmähführen/veräppeln”. (bicker and banter) Gerade diese Dialoge machen “Night Train” so lebendig und verleihen der doku­men­ta­ri­schen Arbeit Spielfilmqualitäten.

    So gross der Schauwert der Eisen­bahn­tech­nik ist, “Night Mail” führt uns vor Augen, dass nur das Know-how eines rou­ti­nier­ten und ein­ge­spiel­ten Teams das “Tra­vel­ling Post Office” funk­ti­ons­fä­hig machte. Erkennbar zum Beispiel beim Sortieren der Briefe, noch ohne Post­leit­zahl und bei der Übergabe der Postsäcke “on the fly”, eine hals­bre­che­ri­sche Methode des “Ein- und Ausladens” der Post.

    Über den Kunst­griff der Ein­schu­lung eines neuen Mit­ar­bei­ters erfährt der Zuschauer wie Postsäcke bei voller Fahrt ein- und aus­ge­la­den werden. Mittels einer Apparatur an der Bahn­stre­cke mit Über­ga­be­ge­stell und Auf­fang­netz und der kor­re­spon­die­ren­den Ein­rich­tung am Waggon wirft der dahin­ra­sen­de Zug den Sack aus­zu­lie­fern­der Post ab und der Postsack mit den zusor­tie­ren­den Briefen knallt mit grosser Wucht in den Waggon hinein. Bis 1971 wurde in Gross­bri­tan­ni­en dieser “non-stop-Exchange” prak­ti­ziert, der auch in anderen Ländern, etwa der USA gang und gäbe war. Erfah­rungs­wis­sen und volle Auf­merk­sam­keit waren buch­stäb­lich über­le­bens­wich­tig bei dieser Tätigkeit, denn Ver­let­zun­gen, auch mit Todes­fol­ge, waren eine ständige Gefahr bei diesem Job.

    Charles Hut­ch­craft aus Illinois schildert seine Erfahrung auf einem US-ame­ri­ka­ni­schen Postzug: “Auf den Zügen des “Railway Post Office” nennen sie das Fangen und Werfen. Man fängt einen Postsack bei der Vor­bei­fahrt mit einer Geschwin­dig­keit von 80 Meilen die Stunde auf. Du streckst deinen Haken aus dem Fenster. Das war immer aufregend für mich. Ich werde das erste Mal nie vergessen, weil für diese Arbeit hat man nicht einmal eine Ver­si­che­rung bekommen. Wenn die wussten, dass du so einen Job machst, hast du bei niemanden eine Ver­si­che­rung bekommen, weil du dich wirklich leicht verletzen konntest. Also haben wir unsere eigene Ver­si­che­rung begründet. Die gibt es heute noch.”(Quelle: Oral Histories The Railway Mail System, National Postal Museum Smithsonian)

    So gefähr­lich und anstren­gend die Arbeit im Post­dienst sein konnte, 1936, als Night Mail gedreht wurde, waren noch die Arbeiter im Zentrum des Pro­duk­ti­ons­pro­zes­ses. Mit zuneh­men­der Auto­ma­ti­sie­rung wurden die Arbei­ten­den mehr und mehr dequa­li­fi­ziert, durch tech­ni­sche Lösungen ersetzt und manchmal regel­recht zu Über­flüs­si­gen degra­diert – „deplor­ables“ (1) in der Diktion von Hillary Clinton.

     

    Zum poe­ti­schen Schluss­teil des Films, von W.H. Auden und Benjamin Britten ver­ant­wor­tet, gibt es einen eigenen Beitrag. Night Mail – Der poetische Blick

     

    1) Mit „basket of deplor­ables“ bezeich­net Hillary Clinton einen Teil der Anhän­ger­schäft von Donald Trump in einer Rede während einer Fund-Raising Ver­an­stal­tung in New York am 9. September 2016.

    Night Mail (1936) : GPO Film Unit / Crown Film Unit : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive 

    https://youtu.be/stIh4RweYns 

    Travelling Post Office Drop-Off Demonstration 

    Library of Congress collection: 1903 demonstration of catching a mail bag "on the fly" 

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    Night Mail — Die Arbeit im Fokus

    Konrad Wakolbinger

    "Night Mail" (1936), vom britischen General Post Office als Imagefilm in Auftrag gegeben, ging als Dokumentarfilm in die Filmgeschichte ein. Die Regisseuren Harry Watt und Basil Wright schafften eine Ode an die Arbeiter und die moderne Technik indem sie ihren naturalistischen Blick mit poetischen Elementen und Menschlichkeit anreichern.

    Der Postal Special verkehrte täglich von London über Glasgow und Edinburgh nach Aberdeen. 40 Post­be­am­te an Bord sor­tier­ten und ver­teil­ten eine halbe Million Briefe während der nächt­li­chen Fahrt. Am Beispiel einer Reise dieses rollenden Postamtes doku­men­tie­ren die Regis­seu­re Watt und Wright das orga­ni­sa­to­ri­sche und tech­ni­sche Raf­fi­ne­ment, sowie die Leistung der Arbeiter von Post und Bahn. “Night Mail” sollte das Publikum beein­dru­cken und so den lädierten Ruf der Royal Mail aufbessern.

    Fahr­dienst­lei­tung, Stellwerk, Gleis­ar­bei­ter, Verladung der Postsäcke, das Koppeln der Waggons. Ein­stel­lung für Ein­stel­lung bauen die Regis­seu­re das Bild einer komplexen Logistik, die wie das sprich­wört­li­che Uhrwerk läuft. Geschwin­dig­keit, Taktung, das Zusam­men­spiel von Technik und Mensch sind die tragenden Elemente dieser Cho­reo­gra­phie der Effizienz. Auch beim Drehen bediente man sich der damals moderns­ten Tech­no­lo­gie, wie die beein­dru­cken­den Flug­auf­nah­men, einmal mit dem Schatten des Flugzeugs im Bild, zeigen. Mit der Verortung des Zugs in der Land­schaft und der Ein­bin­dung der Menschen an der Strecke vermeidet es der Film jedoch, den Postzug als eine sich selbst genügende Maschine dar­zu­stel­len.  Genau so wie Audens Gedicht im Schluss­teil von “Night Train”  deutlich macht, dass dieser Zug Briefe für alle Menschen, in allen Lebens­la­gen transportiert.

    Schliess­lich scheint es den Fil­me­ma­chern wichtig zu sein, die Arbei­ten­den nicht nur als Funk­ti­ons­trä­ger zu zeigen, sondern auch in ihren Bezie­hun­gen unter­ein­an­der als Kollegen, die im Bahn­hofs­ca­fé mit der Kellnerin schäkern, oder wenn sie sich gegen­sei­tig “aufziehen/schmähführen/veräppeln”. (bicker and banter) Gerade diese Dialoge machen “Night Train” so lebendig und verleihen der doku­men­ta­ri­schen Arbeit Spielfilmqualitäten.

    So gross der Schauwert der Eisen­bahn­tech­nik ist, “Night Mail” führt uns vor Augen, dass nur das Know-how eines rou­ti­nier­ten und ein­ge­spiel­ten Teams das “Tra­vel­ling Post Office” funk­ti­ons­fä­hig machte. Erkennbar zum Beispiel beim Sortieren der Briefe, noch ohne Post­leit­zahl und bei der Übergabe der Postsäcke “on the fly”, eine hals­bre­che­ri­sche Methode des “Ein- und Ausladens” der Post.

    Über den Kunst­griff der Ein­schu­lung eines neuen Mit­ar­bei­ters erfährt der Zuschauer wie Postsäcke bei voller Fahrt ein- und aus­ge­la­den werden. Mittels einer Apparatur an der Bahn­stre­cke mit Über­ga­be­ge­stell und Auf­fang­netz und der kor­re­spon­die­ren­den Ein­rich­tung am Waggon wirft der dahin­ra­sen­de Zug den Sack aus­zu­lie­fern­der Post ab und der Postsack mit den zusor­tie­ren­den Briefen knallt mit grosser Wucht in den Waggon hinein. Bis 1971 wurde in Gross­bri­tan­ni­en dieser “non-stop-Exchange” prak­ti­ziert, der auch in anderen Ländern, etwa der USA gang und gäbe war. Erfah­rungs­wis­sen und volle Auf­merk­sam­keit waren buch­stäb­lich über­le­bens­wich­tig bei dieser Tätigkeit, denn Ver­let­zun­gen, auch mit Todes­fol­ge, waren eine ständige Gefahr bei diesem Job.

    Charles Hut­ch­craft aus Illinois schildert seine Erfahrung auf einem US-ame­ri­ka­ni­schen Postzug: “Auf den Zügen des “Railway Post Office” nennen sie das Fangen und Werfen. Man fängt einen Postsack bei der Vor­bei­fahrt mit einer Geschwin­dig­keit von 80 Meilen die Stunde auf. Du streckst deinen Haken aus dem Fenster. Das war immer aufregend für mich. Ich werde das erste Mal nie vergessen, weil für diese Arbeit hat man nicht einmal eine Ver­si­che­rung bekommen. Wenn die wussten, dass du so einen Job machst, hast du bei niemanden eine Ver­si­che­rung bekommen, weil du dich wirklich leicht verletzen konntest. Also haben wir unsere eigene Ver­si­che­rung begründet. Die gibt es heute noch.”(Quelle: Oral Histories The Railway Mail System, National Postal Museum Smithsonian)

    So gefähr­lich und anstren­gend die Arbeit im Post­dienst sein konnte, 1936, als Night Mail gedreht wurde, waren noch die Arbeiter im Zentrum des Pro­duk­ti­ons­pro­zes­ses. Mit zuneh­men­der Auto­ma­ti­sie­rung wurden die Arbei­ten­den mehr und mehr dequa­li­fi­ziert, durch tech­ni­sche Lösungen ersetzt und manchmal regel­recht zu Über­flüs­si­gen degra­diert – „deplor­ables“ (1) in der Diktion von Hillary Clinton.

     

    Zum poe­ti­schen Schluss­teil des Films, von W.H. Auden und Benjamin Britten ver­ant­wor­tet, gibt es einen eigenen Beitrag. Night Mail – Der poetische Blick

     

    1) Mit „basket of deplor­ables“ bezeich­net Hillary Clinton einen Teil der Anhän­ger­schäft von Donald Trump in einer Rede während einer Fund-Raising Ver­an­stal­tung in New York am 9. September 2016.

    Night Mail (1936) : GPO Film Unit / Crown Film Unit : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive

    https://youtu.be/stIh4RweYns

    Travelling Post Office Drop-Off Demonstration

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    Über diesen Blog

    Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes ver­an­schau­licht dieser Blog buch­stäb­lich das weite Feld der Arbeit, Beschäf­ti­gung und Bildung in einer offenen Sammlung aka­de­mi­scher, künst­le­ri­scher und auch anek­do­ti­scher Erkenntnisse.

    Über uns

    Konrad Wakol­bin­ger dreht Doku­men­tar­fil­me über Arbeit und Leben. Jörg Mar­ko­witsch forscht zu Bildung und Arbeit.  Beide leben in Wien. Infor­ma­tio­nen zu Gast­au­toren und ‑autorin­nen finden sich bei ihren jewei­li­gen Beiträgen

    Über uns hinaus

    Interesse an mehr? Wir haben hier Emp­feh­lun­gen zu ein­schlä­gi­gen Festivals, Film­samm­lun­gen und Literatur zusammengestellt.

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