Hikikomori — Depression als Rebellion?
Unter der Bezeichnung NEET (Not in Education, Employment, or Training) werden junge Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren zusammengefasst, die nicht in Beschäftigung oder Ausbildung sind. Das waren 2015 in Europa etwa 6,5 Mio. Personen und, besorgniserregend, je nach EU-Land 10–20% aller jungen Leute (Eurofound 2016). Die Zahlen für 2021 sind ähnlich (Eurostat, 2022).
NEET ist zunächst ein statistisches Konzept, das wenig über die dramatische Situation dieser heterogenen Gruppe und deren Befindlichkeit aussagt. Fernab der Statistik könnte man drei Hauptgruppen unterscheiden Jene, die einigermaßen orientierungslos sind; jene, die vorübergehend neben der Spur stehen; und schließlich jene, die zutiefst entfremdet sind (Williamson 2010).
Zur letzten Gruppe, der zutiefst entfremdeten, zählen auch Hikikomori. Vornehmlich junge Männer in Japan, die keinen sozialen Kontakt außerhalb ihrer engsten Familie haben, häufig die Nacht zum Tag machen und Unmengen Manga, Anime und E‑Games verschlingen. Wenngleich als soziales Phänomen erkannt, verschwimmt die Grenze zum Pathologischen. Depression und andere psychische Erkrankungen sind Begleiterscheinung und Ursache zugleich. “ ‘Ich kann rausgehen, wenn ich will’, sagen sie, ‘aber ich will nicht’ […] Sie sind die Eremiten der Moderne” (Igort 2018, S. 128).
Manche Soziologen sehen im Verhalten der Hikikomori eine Art Rebellion gegen den Druck der Erwachsenengesellschaft, dem sie seit Kindestagen ausgesetzt sind (Furlong 2008). Nachdem etablierte Formen jugendlicher Subkultur in ewig junggebliebene Erwachsenen fortleben und neue Formen sich in antiautoritären Gesellschaften nur schwer durchsetzen, besteht die einzige Gegenkultur offenbar nur im totalen Rückzug. Paradoxerweise empfinden die jungen Leute den (Selbst-)Ausschluss aus der Gesellschaft als Durchsetzung von Freiheit. In den Dschihad zu ziehen, ist gegebenenfalls noch eine Alternative, um Erwachsene hierzulande vor den Kopf zu stoßen.
Hikikomori haben in den vergangenen Jahren auch in Europa, speziell in Frankreich, Italien und Großbritannien, zunehmend Aufmerksamkeit bekommen. Das bezeugen sowohl Spielfilme (z.B. von Sophie Attelann) als auch Dokumentarfilm (z.B. David Beautru und Dorothée Lorang). In Japan zeigt inzwischen das neue Konzept von Leihschwester („Rental Sister“), soziale Gefährtinnen zum Mieten, erste Erfolge im Umgang mit Hikikomori und kreiert ganz nebenbei eine faszinierende neue Berufsgruppe, die gänzlich auf soziale und emotionale Intelligenz als Kernkompetenz setzt.
In der politischen und wissenschaftlichen Debatte um NEET spielen die japanischen Hikikomori bislang jedoch noch kaum eine Rolle. Zu Unrecht. Denn zum einen muss man davon ausgehen, dass ein Teil der NEET Jugendlichen in Europa sich in einer ähnlichen, ja oft derselben Lage befindet, zum andern steckt wohl ein wenig Hikikomori in uns allen – nicht nur in Zeiten von Covid-19.
Referenzen:
Eurofound. (2016). Exploring the diversity of NEETs. Luxembourg: Publications Office of the European Union
Eurostat (2022). Statistics explained. Statistics on young people neither in employment nor in education or training.
Williamson, H. (2010). Delivering a ‘NEET’solution: an essay on an apparently intractable problem. In S. Upton (Ed.), Engaging Wales’ disengaged youth: (pp. 7–20). Cardiff: Institute of Welsh Affairs.
Furlong, A. (2008). The Japanese hikikomori phenomenon: acute social withdrawal among young people. The sociological review, 56(2), 309–325.
Igort. (2018). Berichte aus Japan. Ein Zeichner auf Wanderschaft. Berlin: Reprodukt.
David Beautru und Dorothée Lorang, Hikikomori - à l'écoute du silence, Frankreich 2013, Trailer, Englische Untertitel
Sophie Attelann, Hikikomori, Frankreich2018, Teaser, Franzöisch mit Englischen Untertitel
Amelia Martyn-Hemphill, Rent-a-sister: Coaxing Japan’s hikikomori men out of their bedrooms, BBC News, 2019, Englisch, 13min
Euronews, Cut off from society: Japan's hikikomori, 2018, Englisch, 5min
David Beautru und Dorothée Lorang, Hikikomori - à l'écoute du silence, Frankreich 2013, Filmstill
© Vivement Lundi!
Hikikomori — Depression als Rebellion?
Unter der Bezeichnung NEET (Not in Education, Employment, or Training) werden junge Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren zusammengefasst, die nicht in Beschäftigung oder Ausbildung sind. Das waren 2015 in Europa etwa 6,5 Mio. Personen und, besorgniserregend, je nach EU-Land 10–20% aller jungen Leute (Eurofound 2016). Die Zahlen für 2021 sind ähnlich (Eurostat, 2022).
NEET ist zunächst ein statistisches Konzept, das wenig über die dramatische Situation dieser heterogenen Gruppe und deren Befindlichkeit aussagt. Fernab der Statistik könnte man drei Hauptgruppen unterscheiden Jene, die einigermaßen orientierungslos sind; jene, die vorübergehend neben der Spur stehen; und schließlich jene, die zutiefst entfremdet sind (Williamson 2010).
Zur letzten Gruppe, der zutiefst entfremdeten, zählen auch Hikikomori. Vornehmlich junge Männer in Japan, die keinen sozialen Kontakt außerhalb ihrer engsten Familie haben, häufig die Nacht zum Tag machen und Unmengen Manga, Anime und E‑Games verschlingen. Wenngleich als soziales Phänomen erkannt, verschwimmt die Grenze zum Pathologischen. Depression und andere psychische Erkrankungen sind Begleiterscheinung und Ursache zugleich. “ ‘Ich kann rausgehen, wenn ich will’, sagen sie, ‘aber ich will nicht’ […] Sie sind die Eremiten der Moderne” (Igort 2018, S. 128).
Manche Soziologen sehen im Verhalten der Hikikomori eine Art Rebellion gegen den Druck der Erwachsenengesellschaft, dem sie seit Kindestagen ausgesetzt sind (Furlong 2008). Nachdem etablierte Formen jugendlicher Subkultur in ewig junggebliebene Erwachsenen fortleben und neue Formen sich in antiautoritären Gesellschaften nur schwer durchsetzen, besteht die einzige Gegenkultur offenbar nur im totalen Rückzug. Paradoxerweise empfinden die jungen Leute den (Selbst-)Ausschluss aus der Gesellschaft als Durchsetzung von Freiheit. In den Dschihad zu ziehen, ist gegebenenfalls noch eine Alternative, um Erwachsene hierzulande vor den Kopf zu stoßen.
Hikikomori haben in den vergangenen Jahren auch in Europa, speziell in Frankreich, Italien und Großbritannien, zunehmend Aufmerksamkeit bekommen. Das bezeugen sowohl Spielfilme (z.B. von Sophie Attelann) als auch Dokumentarfilm (z.B. David Beautru und Dorothée Lorang). In Japan zeigt inzwischen das neue Konzept von Leihschwester („Rental Sister“), soziale Gefährtinnen zum Mieten, erste Erfolge im Umgang mit Hikikomori und kreiert ganz nebenbei eine faszinierende neue Berufsgruppe, die gänzlich auf soziale und emotionale Intelligenz als Kernkompetenz setzt.
In der politischen und wissenschaftlichen Debatte um NEET spielen die japanischen Hikikomori bislang jedoch noch kaum eine Rolle. Zu Unrecht. Denn zum einen muss man davon ausgehen, dass ein Teil der NEET Jugendlichen in Europa sich in einer ähnlichen, ja oft derselben Lage befindet, zum andern steckt wohl ein wenig Hikikomori in uns allen – nicht nur in Zeiten von Covid-19.
Referenzen:
Eurofound. (2016). Exploring the diversity of NEETs. Luxembourg: Publications Office of the European Union
Eurostat (2022). Statistics explained. Statistics on young people neither in employment nor in education or training.
Williamson, H. (2010). Delivering a ‘NEET’solution: an essay on an apparently intractable problem. In S. Upton (Ed.), Engaging Wales’ disengaged youth: (pp. 7–20). Cardiff: Institute of Welsh Affairs.
Furlong, A. (2008). The Japanese hikikomori phenomenon: acute social withdrawal among young people. The sociological review, 56(2), 309–325.
Igort. (2018). Berichte aus Japan. Ein Zeichner auf Wanderschaft. Berlin: Reprodukt.
David Beautru und Dorothée Lorang, Hikikomori - à l'écoute du silence, Frankreich 2013, Trailer, Englische Untertitel
Sophie Attelann, Hikikomori, Frankreich2018, Teaser, Franzöisch mit Englischen Untertitel
Amelia Martyn-Hemphill, Rent-a-sister: Coaxing Japan’s hikikomori men out of their bedrooms, BBC News, 2019, Englisch, 13min
Euronews, Cut off from society: Japan's hikikomori, 2018, Englisch, 5min
David Beautru und Dorothée Lorang, Hikikomori - à l'écoute du silence, Frankreich 2013, Filmstill
© Vivement Lundi!
W‑o-W Film Screening #1: Pflegenotstand im Scheinwerferlicht
Work-o-Witch veranstaltet am 10. November 2022 einen Filmabend zur Pflegeausbildung. Die Veranstaltung untersucht die Rolle des Films in der Berufsausbildung und als Mittel zur Thematisierung und Bekämpfung des Pflege-(personal-)notstands.
Educating Frank
„Educating Rita“ (1983) ist das unbestrittene filmische Lieblingsbeispiel der Erwachsenenbildungsforschung: selten wurde der soziale Aufstieg über Bildung so facettenreich wie unterhaltsam erzählt. In Zeiten digitaler Lehre lohnt ein Wiedersehen mit Fokus auf der zweiten Hauptrolle, neben Rita, dem Dozenten Frank, alias Michael Caine.
Trainspotters’ job interviews
Job-Interviews im Spielfilm sind selten. Dennoch hält die Filmgeschichte einige besondere Leckerbissen bereit. Aus Sicht der Arbeitsmarktverwaltung unübertroffen ist die Interview-Szene aus Trainspotting (1996) von Danny Boyle.
Was ist Arbeit?
Was Beschäftigung? Und wie haben sie sich über die Jahrhunderte verändert? Führende Wissenschafter:innen aus Europa, den USA, China und Afrika reflektieren diese und verwandte Fragen in einem sechsteiligen Dokumentarfilm von Gérard Mordillat und Bertrand Rothé, der sich auch fabelhaft als Podcast eignet.
Die Grenzen unserer Zukunftsvorstellung: Männer bei der Hausarbeit!
Es ist schwierig, die Zukunft als einem Gegenstand zu begreifen, der einer objektiven Analyse zugänglich ist. Die Zukunft ist unweigerlich ungreifbar. Es gibt jedoch eine Ausnahme: Die Zukunft der Vergangenheit. «Vergangene Zukünfte» wie sie sich etwa in Werbefilmen der 1950er und 1960er Jahre manifestierten, enthüllen so manch Interessantes, etwa den Mangel an Vorstellung sozialen Wandels.
Zukunft der Arbeit: Science und Science-Fiction
Zukunftsforschung hat sich längst als Wissenschaftsdisziplin etabliert. Weshalb die Forschung sich nicht scheuen sollte, Anleihen bei Science-Fiction Filmen zu nehmen, wird bei der britischen Miniserie „Years and Years“ (2019) von Russell T. Davies deutlich.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.