Night Mail — Die Arbeit im Fokus
Der Postal Special verkehrte täglich von London über Glasgow und Edinburgh nach Aberdeen. 40 Postbeamte an Bord sortierten und verteilten eine halbe Million Briefe während der nächtlichen Fahrt. Am Beispiel einer Reise dieses rollenden Postamtes dokumentieren die Regisseure Watt und Wright das organisatorische und technische Raffinement, sowie die Leistung der Arbeiter von Post und Bahn. “Night Mail” sollte das Publikum beeindrucken und so den lädierten Ruf der Royal Mail aufbessern.
Fahrdienstleitung, Stellwerk, Gleisarbeiter, Verladung der Postsäcke, das Koppeln der Waggons. Einstellung für Einstellung bauen die Regisseure das Bild einer komplexen Logistik, die wie das sprichwörtliche Uhrwerk läuft. Geschwindigkeit, Taktung, das Zusammenspiel von Technik und Mensch sind die tragenden Elemente dieser Choreographie der Effizienz. Auch beim Drehen bediente man sich der damals modernsten Technologie, wie die beeindruckenden Flugaufnahmen, einmal mit dem Schatten des Flugzeugs im Bild, zeigen. Mit der Verortung des Zugs in der Landschaft und der Einbindung der Menschen an der Strecke vermeidet es der Film jedoch, den Postzug als eine sich selbst genügende Maschine darzustellen. Genau so wie Audens Gedicht im Schlussteil von “Night Train” deutlich macht, dass dieser Zug Briefe für alle Menschen, in allen Lebenslagen transportiert.
Schliesslich scheint es den Filmemachern wichtig zu sein, die Arbeitenden nicht nur als Funktionsträger zu zeigen, sondern auch in ihren Beziehungen untereinander als Kollegen, die im Bahnhofscafé mit der Kellnerin schäkern, oder wenn sie sich gegenseitig “aufziehen/schmähführen/veräppeln”. (bicker and banter) Gerade diese Dialoge machen “Night Train” so lebendig und verleihen der dokumentarischen Arbeit Spielfilmqualitäten.
So gross der Schauwert der Eisenbahntechnik ist, “Night Mail” führt uns vor Augen, dass nur das Know-how eines routinierten und eingespielten Teams das “Travelling Post Office” funktionsfähig machte. Erkennbar zum Beispiel beim Sortieren der Briefe, noch ohne Postleitzahl und bei der Übergabe der Postsäcke “on the fly”, eine halsbrecherische Methode des “Ein- und Ausladens” der Post.
Über den Kunstgriff der Einschulung eines neuen Mitarbeiters erfährt der Zuschauer wie Postsäcke bei voller Fahrt ein- und ausgeladen werden. Mittels einer Apparatur an der Bahnstrecke mit Übergabegestell und Auffangnetz und der korrespondierenden Einrichtung am Waggon wirft der dahinrasende Zug den Sack auszuliefernder Post ab und der Postsack mit den zusortierenden Briefen knallt mit grosser Wucht in den Waggon hinein. Bis 1971 wurde in Grossbritannien dieser “non-stop-Exchange” praktiziert, der auch in anderen Ländern, etwa der USA gang und gäbe war. Erfahrungswissen und volle Aufmerksamkeit waren buchstäblich überlebenswichtig bei dieser Tätigkeit, denn Verletzungen, auch mit Todesfolge, waren eine ständige Gefahr bei diesem Job.
Charles Hutchcraft aus Illinois schildert seine Erfahrung auf einem US-amerikanischen Postzug: “Auf den Zügen des “Railway Post Office” nennen sie das Fangen und Werfen. Man fängt einen Postsack bei der Vorbeifahrt mit einer Geschwindigkeit von 80 Meilen die Stunde auf. Du streckst deinen Haken aus dem Fenster. Das war immer aufregend für mich. Ich werde das erste Mal nie vergessen, weil für diese Arbeit hat man nicht einmal eine Versicherung bekommen. Wenn die wussten, dass du so einen Job machst, hast du bei niemanden eine Versicherung bekommen, weil du dich wirklich leicht verletzen konntest. Also haben wir unsere eigene Versicherung begründet. Die gibt es heute noch.”(Quelle: Oral Histories The Railway Mail System, National Postal Museum Smithsonian)
So gefährlich und anstrengend die Arbeit im Postdienst sein konnte, 1936, als Night Mail gedreht wurde, waren noch die Arbeiter im Zentrum des Produktionsprozesses. Mit zunehmender Automatisierung wurden die Arbeitenden mehr und mehr dequalifiziert, durch technische Lösungen ersetzt und manchmal regelrecht zu Überflüssigen degradiert – „deplorables“ (1) in der Diktion von Hillary Clinton.
Zum poetischen Schlussteil des Films, von W.H. Auden und Benjamin Britten verantwortet, gibt es einen eigenen Beitrag. Night Mail – Der poetische Blick
1) Mit „basket of deplorables“ bezeichnet Hillary Clinton einen Teil der Anhängerschäft von Donald Trump in einer Rede während einer Fund-Raising Veranstaltung in New York am 9. September 2016.
Night Mail (1936) : GPO Film Unit / Crown Film Unit : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive
https://youtu.be/stIh4RweYns
Travelling Post Office Drop-Off Demonstration
Library of Congress collection: 1903 demonstration of catching a mail bag "on the fly"
Night Mail — Die Arbeit im Fokus
Der Postal Special verkehrte täglich von London über Glasgow und Edinburgh nach Aberdeen. 40 Postbeamte an Bord sortierten und verteilten eine halbe Million Briefe während der nächtlichen Fahrt. Am Beispiel einer Reise dieses rollenden Postamtes dokumentieren die Regisseure Watt und Wright das organisatorische und technische Raffinement, sowie die Leistung der Arbeiter von Post und Bahn. “Night Mail” sollte das Publikum beeindrucken und so den lädierten Ruf der Royal Mail aufbessern.
Fahrdienstleitung, Stellwerk, Gleisarbeiter, Verladung der Postsäcke, das Koppeln der Waggons. Einstellung für Einstellung bauen die Regisseure das Bild einer komplexen Logistik, die wie das sprichwörtliche Uhrwerk läuft. Geschwindigkeit, Taktung, das Zusammenspiel von Technik und Mensch sind die tragenden Elemente dieser Choreographie der Effizienz. Auch beim Drehen bediente man sich der damals modernsten Technologie, wie die beeindruckenden Flugaufnahmen, einmal mit dem Schatten des Flugzeugs im Bild, zeigen. Mit der Verortung des Zugs in der Landschaft und der Einbindung der Menschen an der Strecke vermeidet es der Film jedoch, den Postzug als eine sich selbst genügende Maschine darzustellen. Genau so wie Audens Gedicht im Schlussteil von “Night Train” deutlich macht, dass dieser Zug Briefe für alle Menschen, in allen Lebenslagen transportiert.
Schliesslich scheint es den Filmemachern wichtig zu sein, die Arbeitenden nicht nur als Funktionsträger zu zeigen, sondern auch in ihren Beziehungen untereinander als Kollegen, die im Bahnhofscafé mit der Kellnerin schäkern, oder wenn sie sich gegenseitig “aufziehen/schmähführen/veräppeln”. (bicker and banter) Gerade diese Dialoge machen “Night Train” so lebendig und verleihen der dokumentarischen Arbeit Spielfilmqualitäten.
So gross der Schauwert der Eisenbahntechnik ist, “Night Mail” führt uns vor Augen, dass nur das Know-how eines routinierten und eingespielten Teams das “Travelling Post Office” funktionsfähig machte. Erkennbar zum Beispiel beim Sortieren der Briefe, noch ohne Postleitzahl und bei der Übergabe der Postsäcke “on the fly”, eine halsbrecherische Methode des “Ein- und Ausladens” der Post.
Über den Kunstgriff der Einschulung eines neuen Mitarbeiters erfährt der Zuschauer wie Postsäcke bei voller Fahrt ein- und ausgeladen werden. Mittels einer Apparatur an der Bahnstrecke mit Übergabegestell und Auffangnetz und der korrespondierenden Einrichtung am Waggon wirft der dahinrasende Zug den Sack auszuliefernder Post ab und der Postsack mit den zusortierenden Briefen knallt mit grosser Wucht in den Waggon hinein. Bis 1971 wurde in Grossbritannien dieser “non-stop-Exchange” praktiziert, der auch in anderen Ländern, etwa der USA gang und gäbe war. Erfahrungswissen und volle Aufmerksamkeit waren buchstäblich überlebenswichtig bei dieser Tätigkeit, denn Verletzungen, auch mit Todesfolge, waren eine ständige Gefahr bei diesem Job.
Charles Hutchcraft aus Illinois schildert seine Erfahrung auf einem US-amerikanischen Postzug: “Auf den Zügen des “Railway Post Office” nennen sie das Fangen und Werfen. Man fängt einen Postsack bei der Vorbeifahrt mit einer Geschwindigkeit von 80 Meilen die Stunde auf. Du streckst deinen Haken aus dem Fenster. Das war immer aufregend für mich. Ich werde das erste Mal nie vergessen, weil für diese Arbeit hat man nicht einmal eine Versicherung bekommen. Wenn die wussten, dass du so einen Job machst, hast du bei niemanden eine Versicherung bekommen, weil du dich wirklich leicht verletzen konntest. Also haben wir unsere eigene Versicherung begründet. Die gibt es heute noch.”(Quelle: Oral Histories The Railway Mail System, National Postal Museum Smithsonian)
So gefährlich und anstrengend die Arbeit im Postdienst sein konnte, 1936, als Night Mail gedreht wurde, waren noch die Arbeiter im Zentrum des Produktionsprozesses. Mit zunehmender Automatisierung wurden die Arbeitenden mehr und mehr dequalifiziert, durch technische Lösungen ersetzt und manchmal regelrecht zu Überflüssigen degradiert – „deplorables“ (1) in der Diktion von Hillary Clinton.
Zum poetischen Schlussteil des Films, von W.H. Auden und Benjamin Britten verantwortet, gibt es einen eigenen Beitrag. Night Mail – Der poetische Blick
1) Mit „basket of deplorables“ bezeichnet Hillary Clinton einen Teil der Anhängerschäft von Donald Trump in einer Rede während einer Fund-Raising Veranstaltung in New York am 9. September 2016.
Night Mail (1936) : GPO Film Unit / Crown Film Unit : Free Download, Borrow, and Streaming : Internet Archive
https://youtu.be/stIh4RweYns
Travelling Post Office Drop-Off Demonstration
Library of Congress collection: 1903 demonstration of catching a mail bag "on the fly"
Night Mail – Der poetische Blick
Als der bedeutende Filmwissenschaftler Amos Vogel 1938 aus Wien in die USA fliehen musste, hatte der 17-jährige bereits die Entscheidung getroffen, sein Leben dem Film zu widmen. Das Erlebenis, das sein Zukunft bestimmen sollte, war das Screening von "Night Mail" (1936) und dieser Film weiss auch heute noch zu beeindrucken.
Bossnapping à la Cantona
Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Auseinandersetzungen zwischen Management und Arbeitnehmer:innen in Frankreich deutlich rauer. Das sogenannte "Bossnapping", die Geiselnahme der Geschäftsführung, virtuos von Éric Cantona in der Netflix-Serie 'Dérapages' in Szene gesetzt, liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel.
Ostfrauen. Selbstverwirklichung durch Erwerbsbeteiligung
«Du musst als Frau immer besser sein als der beste Mann im Team. Das ist für eine erfolgreiche Frau das Mindestmass wie das funktioniert im Patriarchat.» fasst Maria Gross, Köchin und Gastronomin aus Thüringen, die Situationen von «Ostfrauen» in der gleichnamigen MDR-Dokumentation von Lutz Pehnert zusammen.
Zwischen Wirklichkeit und Werbung. Berufsinfofilme zur Krankenpflege im Wandel der Zeit
Die Bekämpfung des Pflegepersonalnotstands durch Film hat Geschichte. Ein W-o-W Filmabend thematisiert den Wandel des Pflegeberufs anhand von Berufsinformationsfilmen aus den letzten 80 Jahre.
“Zu jeder Zeit“, mit der Kamera Emotionen der Pflegeausbildung durchleuchten
Ein W-o-W Filmabend kontrastiert Berufsinformationsfilme mit dem einfühlsamen Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ (FR 2018) von Nicolas Philibert zur Pflegausbildung im in einem Krankenhaus im Großraum Paris.
Hikikomori — Depression als Rebellion?
Was kann man aus Japans Erfahrung für Europas Umgang mit NEET-Jugendlichen, also jenen die weder in Beschäftigung noch Ausbildung sind, lernen?