Samurai des stillen Örtchens
Von meiner Reise nach Tokio im vergangenen Vorfrühling kehrte ich mit derart vielen Ideen und Erkenntnissen zurück, dass sie mich auch noch eineinhalb Jahre danach beschäftigen. Zwei Umstände haben mich auf der Reise besonders beeindruckt, auf keinen war ich vorbereitet. In jeder Bar, in der ich war, wurde geraucht. Vor den Bars bzw. auf den Straßen in den besonders belebten Ausgehviertel fanden sich hingegen häufig Schilder mit der Aufschrift: „No smoking on the streets.“ Wenngleich ich mich eigentlich zu den Nicht-Rauchern zähle, habe ich mir umgehend ein Päckchen Mevius besorgt und mich nach 15 Jahren mal wieder mit einer Tschick an die Bar gesetzt. Der Einzige für mich nachvollziehbare Grund für ein Rauchverbot im Freien, scheint die Vermeidung von Kippen auf der Straße gepaart mit dem hohen Hygieneanspruch in Japan zu sein.
Der zweite Umstand hat ebenfalls mit Sauberkeit zu tun. Ich kenne außer Tokio keine Millionenstadt, schon gar keine mit 10 Mio. Einwohner*innen, in der öffentliche Bedürfnisanstalten in ausreichender Zahl vorhanden, allesamt blitzblank und obendrein kostenfrei sind. Jede U‑Bahnstation, jeder Park, jeder Platz hat seinen eigenen Toilettentempel.
Von den WC-Architekturjuwelen, die Wim Wenders in seinem letzten Spielfilm Perfect Days (2023), mit Unterstützung der Nippon Foundation und dem „The Tokyo Toilets“-Projekt, porträtierte, habe ich zwar keine besucht, deren Existenz hat mich im Film aber auch nicht weiter überrascht. Überrascht hat mich hingegen, die Art des Porträts das Wim Wenders von Hirayama, einen Mann in seinen Fünfzigern, der als einfache Toilettenreinigungskraft bei Tokyo Toilets arbeitet, zeichnet. Eine derartige Gelassenheit und Hingabe, die Hirayama (gespielt von Koji Yakusho) für seine Aufgabe an den Tag legt, sucht seinesgleichen. Ähnlich engagiert geht vielleicht „die Braut“ (Uma Thurman) in Kill Bill (2003) oder „der eiskalte Engel“ (Alain Delon, Le Samurai, 1967) zu werke. Hirayama braucht dafür aber keinen Rachefeldzug. Klobürste ersetzt Schusswaffe und Action erschöpft sich in nächtlichem Schattenboxen im Licht einer Straßenlaterne.
Der Film begleitet Hirayama bei seiner täglichen Routine: Aufstehen, Morgenhygiene, Ankleiden, Mini-Transporter einräumen, Toilettenputzen, zur nächsten fahren und dabei amerikanischen Pop von der Musikkassette hören, Toilette putzen, noch eine putzen und nach der Arbeit ins Tröpferlbad. Hirayama verrichtet diese einfache Arbeit vollkommen selbstorganisiert, verantwortungsvoll und mit viel Würde.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Wenders den Arbeitspausen. In seinen Mittagsjause-Pausen verzehrt Hirayama im Park ein Sandwich und beobachtet Hirayama „Komorebi“*, Licht, das durch die Baumwipfel dringt, und fotografiert besonders schöne Momente dieses Lichts mit einer alten Pocketkamera.
Die zarte Geschichte, die sich zwischen den Routinen entspinnt und ein wenig Hirayamas Vorgeschichte freigibt, das feine Schauspiel von Koji Yakusho, die großartige Dramaturgie, dieses äußerst zurückhaltenden, weitgehend beobachtenden, jedoch nie langweiligen Spielfilms, all das kann in diversen Rezensionen nachgelesen werden. Was mich besonders interessiert ist, wie es Wenders gelingt eine ganze Branche, nämliche die Reinigungsdienste, aufzuwerten. Hirayama, der im Film gefühlt kaum mehr als drei Sätze spricht, verkörpert dabei den einsamen Samurai der Reinigungsbranche. Um diese Ausnahmeerscheinung als solche begreifbar zu machen, stellt Wenders dem älteren Hirayama den junge, unreifen, arbeitsscheuen Takashi (Tokio Emoto) zur Seite, für den Hirayama des Öfteren einspringen oder nachputzen muss. In der kompletten Vernachlässigung, ja Ablehnung der Arbeit, verkörpert Takashi den „Normalfall“. Wer putzt schon gerne Toiletten? Wie im klassischen Western, und auch Eastern, unterstreicht dieser Kniff, die Besonderheit des Helden. Aber wer ist hier der Held? Der Rächer der Armen, Unterdrückten, Gepeinigten oder Ermordeten?
Der Held ist ein einfacher Arbeiter im unbeliebtesten Teilbereich des schlechtbezahlten Reinigungsgewerbes. (Hinweis: in der Reinigung arbeiten hauptsächlich Frauen in Teilzeit). Sein Heldsein besteht im Menschsein, sich trotz der äußeren Umstände seiner Würde bewusst sein.
Die filmischen, sozusagen internen, Zutaten zur Aufwertung des Toilettenreinigungsdienstes sind also ein Held in der Gestalt eines Antihelden, der äußerst bescheiden lebt, kaum spricht, Kassetten hört, gebrauchte Bücher liest und das durch die Baumkronen fallende Licht fotografiert, ohne einen expliziten Auftrag zu haben und von allem unbeeindruckt bleibt. Seine Arbeit macht er gründlich, gewissenhaft und immer bescheiden. Die arbeitsbezogenen, sozusagen externen, Zutaten zur Aufwertung der Reinigungsdienste sind zum einen, eine sinnvolle, aber auch eine erfüllbare Aufgabe, die gesellschaftlichen Bedürfnissen dient und ein hohes Maß an Selbständigkeit aber auch Solidarität erfordert bzw. erlaubt; zum anderen, eine ansprechende Arbeitsumgebung. Ersteres ist eine Frage der Arbeitsorganisation, zweiteres eine Frage der Architektur. Beides ist eine Frage der Wertschätzung, die wir bestimmten beruflichen Tätigkeiten entgegenbringen.
Stadtverwaltungen anderer Millionenstädte mögen es The Tokyo Toilets, die den Film mitfinanziert haben, gleichtun und für kostenfreie, saubere, ästhetisch ansprechende öffentliche Toilettenanlagen in ausreichender Zahl sowie anständige Arbeitsbedingungen für jene, die sie erhalten, sorgen.
Perfect Days (2023, JP/DE), Wim Wenders), Trailer
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Samurai des stillen Örtchens
Von meiner Reise nach Tokio im vergangenen Vorfrühling kehrte ich mit derart vielen Ideen und Erkenntnissen zurück, dass sie mich auch noch eineinhalb Jahre danach beschäftigen. Zwei Umstände haben mich auf der Reise besonders beeindruckt, auf keinen war ich vorbereitet. In jeder Bar, in der ich war, wurde geraucht. Vor den Bars bzw. auf den Straßen in den besonders belebten Ausgehviertel fanden sich hingegen häufig Schilder mit der Aufschrift: „No smoking on the streets.“ Wenngleich ich mich eigentlich zu den Nicht-Rauchern zähle, habe ich mir umgehend ein Päckchen Mevius besorgt und mich nach 15 Jahren mal wieder mit einer Tschick an die Bar gesetzt. Der Einzige für mich nachvollziehbare Grund für ein Rauchverbot im Freien, scheint die Vermeidung von Kippen auf der Straße gepaart mit dem hohen Hygieneanspruch in Japan zu sein.
Der zweite Umstand hat ebenfalls mit Sauberkeit zu tun. Ich kenne außer Tokio keine Millionenstadt, schon gar keine mit 10 Mio. Einwohner*innen, in der öffentliche Bedürfnisanstalten in ausreichender Zahl vorhanden, allesamt blitzblank und obendrein kostenfrei sind. Jede U‑Bahnstation, jeder Park, jeder Platz hat seinen eigenen Toilettentempel.
Von den WC-Architekturjuwelen, die Wim Wenders in seinem letzten Spielfilm Perfect Days (2023), mit Unterstützung der Nippon Foundation und dem „The Tokyo Toilets“-Projekt, porträtierte, habe ich zwar keine besucht, deren Existenz hat mich im Film aber auch nicht weiter überrascht. Überrascht hat mich hingegen, die Art des Porträts das Wim Wenders von Hirayama, einen Mann in seinen Fünfzigern, der als einfache Toilettenreinigungskraft bei Tokyo Toilets arbeitet, zeichnet. Eine derartige Gelassenheit und Hingabe, die Hirayama (gespielt von Koji Yakusho) für seine Aufgabe an den Tag legt, sucht seinesgleichen. Ähnlich engagiert geht vielleicht „die Braut“ (Uma Thurman) in Kill Bill (2003) oder „der eiskalte Engel“ (Alain Delon, Le Samurai, 1967) zu werke. Hirayama braucht dafür aber keinen Rachefeldzug. Klobürste ersetzt Schusswaffe und Action erschöpft sich in nächtlichem Schattenboxen im Licht einer Straßenlaterne.
Der Film begleitet Hirayama bei seiner täglichen Routine: Aufstehen, Morgenhygiene, Ankleiden, Mini-Transporter einräumen, Toilettenputzen, zur nächsten fahren und dabei amerikanischen Pop von der Musikkassette hören, Toilette putzen, noch eine putzen und nach der Arbeit ins Tröpferlbad. Hirayama verrichtet diese einfache Arbeit vollkommen selbstorganisiert, verantwortungsvoll und mit viel Würde.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Wenders den Arbeitspausen. In seinen Mittagsjause-Pausen verzehrt Hirayama im Park ein Sandwich und beobachtet Hirayama „Komorebi“*, Licht, das durch die Baumwipfel dringt, und fotografiert besonders schöne Momente dieses Lichts mit einer alten Pocketkamera.
Die zarte Geschichte, die sich zwischen den Routinen entspinnt und ein wenig Hirayamas Vorgeschichte freigibt, das feine Schauspiel von Koji Yakusho, die großartige Dramaturgie, dieses äußerst zurückhaltenden, weitgehend beobachtenden, jedoch nie langweiligen Spielfilms, all das kann in diversen Rezensionen nachgelesen werden. Was mich besonders interessiert ist, wie es Wenders gelingt eine ganze Branche, nämliche die Reinigungsdienste, aufzuwerten. Hirayama, der im Film gefühlt kaum mehr als drei Sätze spricht, verkörpert dabei den einsamen Samurai der Reinigungsbranche. Um diese Ausnahmeerscheinung als solche begreifbar zu machen, stellt Wenders dem älteren Hirayama den junge, unreifen, arbeitsscheuen Takashi (Tokio Emoto) zur Seite, für den Hirayama des Öfteren einspringen oder nachputzen muss. In der kompletten Vernachlässigung, ja Ablehnung der Arbeit, verkörpert Takashi den „Normalfall“. Wer putzt schon gerne Toiletten? Wie im klassischen Western, und auch Eastern, unterstreicht dieser Kniff, die Besonderheit des Helden. Aber wer ist hier der Held? Der Rächer der Armen, Unterdrückten, Gepeinigten oder Ermordeten?
Der Held ist ein einfacher Arbeiter im unbeliebtesten Teilbereich des schlechtbezahlten Reinigungsgewerbes. (Hinweis: in der Reinigung arbeiten hauptsächlich Frauen in Teilzeit). Sein Heldsein besteht im Menschsein, sich trotz der äußeren Umstände seiner Würde bewusst sein.
Die filmischen, sozusagen internen, Zutaten zur Aufwertung des Toilettenreinigungsdienstes sind also ein Held in der Gestalt eines Antihelden, der äußerst bescheiden lebt, kaum spricht, Kassetten hört, gebrauchte Bücher liest und das durch die Baumkronen fallende Licht fotografiert, ohne einen expliziten Auftrag zu haben und von allem unbeeindruckt bleibt. Seine Arbeit macht er gründlich, gewissenhaft und immer bescheiden. Die arbeitsbezogenen, sozusagen externen, Zutaten zur Aufwertung der Reinigungsdienste sind zum einen, eine sinnvolle, aber auch eine erfüllbare Aufgabe, die gesellschaftlichen Bedürfnissen dient und ein hohes Maß an Selbständigkeit aber auch Solidarität erfordert bzw. erlaubt; zum anderen, eine ansprechende Arbeitsumgebung. Ersteres ist eine Frage der Arbeitsorganisation, zweiteres eine Frage der Architektur. Beides ist eine Frage der Wertschätzung, die wir bestimmten beruflichen Tätigkeiten entgegenbringen.
Stadtverwaltungen anderer Millionenstädte mögen es The Tokyo Toilets, die den Film mitfinanziert haben, gleichtun und für kostenfreie, saubere, ästhetisch ansprechende öffentliche Toilettenanlagen in ausreichender Zahl sowie anständige Arbeitsbedingungen für jene, die sie erhalten, sorgen.
Perfect Days (2023, JP/DE), Wim Wenders), Trailer
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Filmstill. Perfect Days (2023)
© Bitters End, Japan
Das Filmbild als de-subjektivierende Kraft, oder Klassenbildung im Film
The work of art is to dominate the spectator: the spectator is not to dominate the work of art. The spectator is to be receptive. He is to be the violin on which the master is to play. (Oscar Wilde, The Soul of Man Under Socialism)
Der Schmäh mit der Eigenverantwortung
Die schöne, zornige Gig Economy-Komödie „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ (2023, Radu Jude) muss in Bukarest nicht lang nach Ausbeutungsverhältnissen suchen, sondern findet sie bereits unterwegs im Auto einer Produktionsassistentin.
Fischereipolitik und das Gesetz des Arbeitsunfalls
Die Serie ‚Blackport‘ (2021) arbeitet virtuos ein Stück isländische Wirtschaftsgeschichte rund um die Einführung der Fischereifangquoten auf. Dramatisch, amüsant und zugleich bildend spiegeln sich in diesem Mikrokosmos die Missstände der Welt.
“Frauen im Laufgitter”. Weibliche Rollenbilder und die Schweizer Berufsbildung
Eine kleine, aber feine Ausstellung zur Schweizer Autorin Iris von Roten im Literatur-Museum Strauhof in Zürich, wirft Fragen zu Inklusion und Gender in der Schweizer Berufsbildung auf – damals wie heute.
(Un-)verantwortliche Arbeit – für uns
„Living – einmal wirklich leben“ (2022) ist das britische Remake des Klassikers "Ikiru" von Akira Kurosawa von 1952. Der Film thematisiert ein zentrales Thema der Arbeitswelt: Verantwortung übernehmen. Bill Nighy, vielleicht in der Rolle seines Lebens, Drehbuchautor Ishiguro und der Film an sich wurden für mehrere britische Filmpreise nominiert.
Ungeschönte Arbeitsrealitäten. Die Lehre als Konservenfacharbeiter
Die kritische Betrachtung historischer Berufsinformationsfilme vermag den Blick für große Veränderungen der Berufs- und Arbeitswelt zu schärfen. Warum es sich lohnt einen Schweizer Fernsehbeitrag zum Lehrberuf Konservenfacharbeiter aus den 1960ern genauer anzusehen.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
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