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  • Fische­rei­po­li­tik und das Gesetz des Arbeitsunfalls


    Jörg Markowitsch

    Die Serie ‚Blackport‘ (2021) arbeitet virtuos ein Stück isländische Wirtschaftsgeschichte rund um die Einführung der Fischereifangquoten auf. Dramatisch, amüsant und zugleich bildend spiegeln sich in diesem Mikrokosmos die Missstände der Welt.

    Die ersten Folgen der Miniserie „Verbúðin“ (IS, 2021), mit dem nichts­sa­gen­den eng­li­schen Ver­leih­ti­tel „Blackport“, ver­mit­teln einen authen­ti­schen Eindruck des islän­di­schen Fischereiarbeiter:innenmilieus der 1980er Jahre. Um wach­zu­blei­ben in der Fisch­fa­brik schmeißt man Drogen ein und die After-Work-Partys, befeuert von illegalem Alkohol und zur Not auch mit Frost­schutz­mit­tel, zeugen von einer Rus­ti­ka­li­tät und Aus­ge­las­sen­heit die sei­nes­glei­chen suchen.

    Da trennt etwa die Maschine die Hand vom Arbeiter, statt den Kopf vom Fisch, oder es fährt einem Fischer ein Bolzen ins Gesicht, weil die Unacht­sam­keit eines anderen Arbeiters das För­der­band zer­sprin­gen lässt. Man fühlt fast ein wenig Genug­tu­ung, wenn sich zur Abwechs­lung mal ein Lokal­po­li­ti­ker bei der Ein­wei­hung einer neuen Werk­stät­te der hiesigen Berufs­schu­le mit der Bandsäge einen Finger abtrennt. Letztlich schreibt sich aber auch dabei das Gesetz der Serie von Arbeits­un­fäl­len fort. Arbeits­un­fäl­le sind Teil von Arbeit, werden aber selten dar­ge­stellt. “Blackpool” ist eine Ausnahme und beweist, dass der Arbeits­un­fall auch als dra­ma­tur­gi­sches Element taugt.

    Durch den Einsatz von Archiv­ma­te­ri­al in den Eröff­nungs­se­quen­zen, einer gran­dio­sen Aus­stat­tung sowie der direkten Bild­spra­che ver­mit­telt “Blackport” uns Zusehern ein islän­di­sches Gesell­schafts­pan­ora­ma nahe am Leben. Selbst die Sexszenen wirken authen­ti­scher, zumal die betei­lig­ten Körper fern von gängigen Schön­heits­idea­len sind.  Rea­li­täts­nah ist letztlich auch die Story („beruhend auf wahren Bege­ben­hei­ten“), welche die Jahre 1983 bis 1991, umspannt. Aufnahmen des Gip­fel­tref­fens von Ronald Reagan und Michail Gor­bat­schow in Reykjavík 1986, liefern einen zeit­li­chen Anker.

    Um der Über­fi­schung ent­ge­gen­zu­wir­ken, führte 1983 der Fische­rei­mi­nis­ter ein neues System von über­trag­ba­ren Fang­quo­ten ein, basierend auf den Fängen der letzten drei Jahren. Die zunächst befris­te­te Regelung wurde 1990 Gesetz und war damals, wie auch heute wieder, äußerst umstrit­ten, da es die Bran­chen­grö­ßen und die zufällig vom Fischer­glück begüns­tig­ten bevor­zug­te. Eine kleine Zahl reicher Fang­flot­ten­eig­ner („Quo­ten­kö­ni­ge“) erhielten einen erheb­li­chen Anteil der jähr­li­chen Quoten, die sie gewinn­brin­gend an andere Fischer verkaufen konnten. Faktisch wurden damit die Fische­rei­grün­de, die sich im kol­lek­ti­ven Eigentum der islän­di­schen Bevöl­ke­rung befanden, pri­va­ti­siert. Nicht­des­to­trotz, besagt die Präambel des islän­di­schen Fische­rei­ge­set­zes, dass der Fisch um Island herum dem islän­di­schen Volk gehört, was in Wirk­lich­keit nicht der Fall ist und im krassen Wider­spruch zum Rest des Gesetzes und der gelebten Praxis steht.

    Die Serie beschreibt vor diesem Hin­ter­grund den Aufstieg von Jón (Gísli Örn Garðars­son), Bür­ger­meis­ter einer Kleinst­stadt auf der Halbinsel West­fjor­de, zum Fische­rei­mi­nis­ters und jenen seiner ehr­gei­zi­gen Sekre­tä­rin Harpa (Nína Dögg Filip­pus­dót­tir), und heim­li­chen Geliebten, zur Quo­ten­kö­ni­gin und „West­fjor­de-Hexe“. Gemeinsam mit ihrem Mann Grímur (Björn Hlynur Haralds­son), dem Kapitän des einzigen Trawlers der Stadt, und einem befreun­de­ten Paar baut sie über die Jahre ein veri­ta­bles Fischerei-Imperium auf, wenn­gleich sich der damit erzielte Wohlstand im Vergleich zum Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus der 1990er Jahre beschei­den ausnimmt. Die Bedeutung des Fang­quo­ten­ge­set­zes für die islän­di­sche Gesell­schaft wird deutlich, wenn man bedenkt das ein Viertel des Brut­to­in­lands­pro­dukts direkt oder indirekt auf die Fischerei zurück­geht und Fisch­pro­duk­te fast die Hälfte des gesamten Exports ausmachen. Zum Vergleich: das kleine Island fängt mehr Fisch als das Ver­ei­nig­te Königreich.

    Neben der erwähnten Authen­ti­zi­tät, die aller­dings nie ins Doku­men­ta­ri­sche abgleitet, sondern stets dem Drama verhaftet bleibt, ist es vor allem die Dar­stel­lung der Ver­flech­tung von Familie, Politik und Unter­neh­mer­tum mit der die Serie, über ihren Unter­hal­tungs­wert hinaus, besticht. Im Mikro­kos­mos Island entfaltet sich ein Zusam­men­spiel zwischen Familien, Politik, Unter­neh­men, Arbei­ter­schaft, Banken und Medien, das sichtbar und begreif­bar wird: Was am Küchen­tisch bespro­chen wird, findet sich tags darauf im Parlament; der Ehebruch gerät zum öffent­li­chen Faust­kampf in der Talkshow; einen inves­ti­ga­ti­ven Jour­na­lis­ten aus­zu­schal­ten, kostet einen Anruf; die Ent­schei­dung der Quo­ten­kö­ni­gin ihr Unter­neh­men zu verkaufen, führt zum Ruin der Gemeinde, usw.

    Nun mag man dem ent­ge­gen­hal­ten, dass alle Isländer:innen mit­ein­an­der über eine Ecke bekannt sind (wohin­ge­gen anderswo es immerhin sechs Kontake bedarf) und daher die Wege ins „Althing“, dem islän­di­sche Parlament, ent­spre­chend kurz sind. Der Reiz der Serie liegt aber gerade in der Tatsache, dass die einzelnen Sub­sys­te­me bzw. Insti­tu­tio­nen (Familie, Staat, Öffent­lich­keit, Wirt­schaft etc.), ver­kör­pert durch einzelne Figuren, unmit­tel­bar inein­an­der­grei­fen und die gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­kei­ten deutlich werden. Damit wird die Kom­ple­xi­tät des Kapi­ta­lis­mus ein Stück fassbarer.

    Es steht nicht die Arbei­ter­schaft auf der einen und die Wirt­schaft auf der anderen Seite. Sondern wie anderswo auch, ringen Menschen mit- und gegen­ein­an­der, die ver­brü­dert, ver­hei­ra­tet, ver­schwä­gert, verliebt oder verhasst sind. Gísli Örn Gar­dars­son, Regisseur, Autor und Haupt­dar­stel­ler, bring es in einem Variety-Interview (2022) auf den Punkt: „Unsere Figuren werden zur Ver­kör­pe­rung des Systems. Sie werden zu dem System und das System wird zu ihnen. Und durch ihre per­sön­li­che Reise bekommen wir hof­fent­lich einen ziemlich klaren Blick auf das, was passiert ist.“ Dass diese „Systeme“ nicht durch­ge­hend korrupt, skru­pel­los und ehrgeizig sind, blitzt da und dort auf. Etwa wenn sich Harpa aus wirt­schaft­lich Gründen zur Geset­zes­über­tre­tung gezwungen sieht und ihr eigenes Handeln kom­men­tiert: „So will ich mein Unter­neh­men nicht führen [müssen]“. Und dennoch ent­schei­det sie, wie auch andere Wirt­schafts­trei­ben­de häufig, gegen das Gemein­wohl. Diese Szene liefert einen perfekten Aus­gangs­punkt für Dis­kus­sio­nen über ethisches wirt­schaft­li­ches Handeln und ist ein Lehr­bei­spiel zur Erläu­te­rung, was im Kapi­ta­lis­mus schiefläuft.

    Mein per­sön­li­ches Highlight von “Blackport” lässt sich ebenfalls durch die Per­so­ni­fi­zie­rung der Systeme deuten. Im Zuge einer großen Aus­söh­nung geben sich Jón, Grímur und Harpa sowie deren befreun­de­tes Teil­ha­ber­paar die Kante und stellen dabei allerlei Blödsinn an, den man selbst den infan­tils­ten Teenagern kaum zutraut. Wenn sie sich etwa gegen­sei­tig mit Fisch bewerfen, so ist das zwar belus­ti­gend, aber ver­kör­pert auch die Beziehung von Politik und Wirt­schaft; wenn sie nach durch­zech­ter Nacht noch voll­trun­ken und kichernd durch die Früh­schicht der Fisch­fa­brik taumeln, dann ist das ebenfalls amüsant, aber steht auch für eine Ver­äp­pe­lung der Arbei­te­rin­nen und Arbeiter seitens der Politik und des Kapitals.

    Zurecht hat die Serie 2023 beim islän­di­scher Film- und Fern­seh­preis Edda abgeräumt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das Kreativ-Trio Garðars­son, Filip­pus­dót­tir und­Ha­ralds­son mit dem erprobten Ansatz und mit derselben Gründ­lich­keit weiterer Höhe­punk­te der jüngeren islän­di­schen Wirt­schafts­ge­schich­te annimmt. Als Prequel bieten sich die Kabel­jau­krie­ge der 1970er zwischen Island und Groß­bri­tan­ni­en an, als Sequel die Finanz­kri­se von 2008 mit der daraus resul­tie­ren­den Regierungskrise.

    Refe­ren­zen:
    Sigfusson, T., Arnason, R., & Morrissey, K. (2013). The economic impor­t­ance of the Icelandic fisheries cluster—Understanding the role of fisheries in a small economy. Marine Policy, 39, 154–161.
    Gray, Tim S. (ed.) (1998). The Politics of Fishing. London: Palgrave Macmillan.
    Linville, JD (Jan 31, 2022). Icelandic Series Mania Winner ‘Blackport’ Brings Political Drama, Severed Limbs to Göteborg, Variety.
    Yingst, A., & Skap­ta­dot­tir, U. D. (2018). Gendered labor in the Icelandic fish pro­ces­sing industry. Maritime Studies, 17(2), 125–132.
    Heath, Elizabeth (Feb 8, 2022). How Iceland’s Herring Girls Helped Bring Equality to the Island Nation, Smit­h­so­ni­an Magazine.

    Blackport (Verbúðin, IS, 2021), Gísli Örn Garðarsson, Trailer, EN Untertitel 

    Blackport (IS, 2021), filmstill.

    Blackport (IS, 2021), filmstill.

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    Fische­rei­po­li­tik und das Gesetz des Arbeitsunfalls

    Jörg Markowitsch

    Die Serie ‚Blackport‘ (2021) arbeitet virtuos ein Stück isländische Wirtschaftsgeschichte rund um die Einführung der Fischereifangquoten auf. Dramatisch, amüsant und zugleich bildend spiegeln sich in diesem Mikrokosmos die Missstände der Welt.

    Die ersten Folgen der Miniserie „Verbúðin“ (IS, 2021), mit dem nichts­sa­gen­den eng­li­schen Ver­leih­ti­tel „Blackport“, ver­mit­teln einen authen­ti­schen Eindruck des islän­di­schen Fischereiarbeiter:innenmilieus der 1980er Jahre. Um wach­zu­blei­ben in der Fisch­fa­brik schmeißt man Drogen ein und die After-Work-Partys, befeuert von illegalem Alkohol und zur Not auch mit Frost­schutz­mit­tel, zeugen von einer Rus­ti­ka­li­tät und Aus­ge­las­sen­heit die sei­nes­glei­chen suchen.

    Da trennt etwa die Maschine die Hand vom Arbeiter, statt den Kopf vom Fisch, oder es fährt einem Fischer ein Bolzen ins Gesicht, weil die Unacht­sam­keit eines anderen Arbeiters das För­der­band zer­sprin­gen lässt. Man fühlt fast ein wenig Genug­tu­ung, wenn sich zur Abwechs­lung mal ein Lokal­po­li­ti­ker bei der Ein­wei­hung einer neuen Werk­stät­te der hiesigen Berufs­schu­le mit der Bandsäge einen Finger abtrennt. Letztlich schreibt sich aber auch dabei das Gesetz der Serie von Arbeits­un­fäl­len fort. Arbeits­un­fäl­le sind Teil von Arbeit, werden aber selten dar­ge­stellt. “Blackpool” ist eine Ausnahme und beweist, dass der Arbeits­un­fall auch als dra­ma­tur­gi­sches Element taugt.

    Durch den Einsatz von Archiv­ma­te­ri­al in den Eröff­nungs­se­quen­zen, einer gran­dio­sen Aus­stat­tung sowie der direkten Bild­spra­che ver­mit­telt “Blackport” uns Zusehern ein islän­di­sches Gesell­schafts­pan­ora­ma nahe am Leben. Selbst die Sexszenen wirken authen­ti­scher, zumal die betei­lig­ten Körper fern von gängigen Schön­heits­idea­len sind.  Rea­li­täts­nah ist letztlich auch die Story („beruhend auf wahren Bege­ben­hei­ten“), welche die Jahre 1983 bis 1991, umspannt. Aufnahmen des Gip­fel­tref­fens von Ronald Reagan und Michail Gor­bat­schow in Reykjavík 1986, liefern einen zeit­li­chen Anker.

    Um der Über­fi­schung ent­ge­gen­zu­wir­ken, führte 1983 der Fische­rei­mi­nis­ter ein neues System von über­trag­ba­ren Fang­quo­ten ein, basierend auf den Fängen der letzten drei Jahren. Die zunächst befris­te­te Regelung wurde 1990 Gesetz und war damals, wie auch heute wieder, äußerst umstrit­ten, da es die Bran­chen­grö­ßen und die zufällig vom Fischer­glück begüns­tig­ten bevor­zug­te. Eine kleine Zahl reicher Fang­flot­ten­eig­ner („Quo­ten­kö­ni­ge“) erhielten einen erheb­li­chen Anteil der jähr­li­chen Quoten, die sie gewinn­brin­gend an andere Fischer verkaufen konnten. Faktisch wurden damit die Fische­rei­grün­de, die sich im kol­lek­ti­ven Eigentum der islän­di­schen Bevöl­ke­rung befanden, pri­va­ti­siert. Nicht­des­to­trotz, besagt die Präambel des islän­di­schen Fische­rei­ge­set­zes, dass der Fisch um Island herum dem islän­di­schen Volk gehört, was in Wirk­lich­keit nicht der Fall ist und im krassen Wider­spruch zum Rest des Gesetzes und der gelebten Praxis steht.

    Die Serie beschreibt vor diesem Hin­ter­grund den Aufstieg von Jón (Gísli Örn Garðars­son), Bür­ger­meis­ter einer Kleinst­stadt auf der Halbinsel West­fjor­de, zum Fische­rei­mi­nis­ters und jenen seiner ehr­gei­zi­gen Sekre­tä­rin Harpa (Nína Dögg Filip­pus­dót­tir), und heim­li­chen Geliebten, zur Quo­ten­kö­ni­gin und „West­fjor­de-Hexe“. Gemeinsam mit ihrem Mann Grímur (Björn Hlynur Haralds­son), dem Kapitän des einzigen Trawlers der Stadt, und einem befreun­de­ten Paar baut sie über die Jahre ein veri­ta­bles Fischerei-Imperium auf, wenn­gleich sich der damit erzielte Wohlstand im Vergleich zum Tur­bo­ka­pi­ta­lis­mus der 1990er Jahre beschei­den ausnimmt. Die Bedeutung des Fang­quo­ten­ge­set­zes für die islän­di­sche Gesell­schaft wird deutlich, wenn man bedenkt das ein Viertel des Brut­to­in­lands­pro­dukts direkt oder indirekt auf die Fischerei zurück­geht und Fisch­pro­duk­te fast die Hälfte des gesamten Exports ausmachen. Zum Vergleich: das kleine Island fängt mehr Fisch als das Ver­ei­nig­te Königreich.

    Neben der erwähnten Authen­ti­zi­tät, die aller­dings nie ins Doku­men­ta­ri­sche abgleitet, sondern stets dem Drama verhaftet bleibt, ist es vor allem die Dar­stel­lung der Ver­flech­tung von Familie, Politik und Unter­neh­mer­tum mit der die Serie, über ihren Unter­hal­tungs­wert hinaus, besticht. Im Mikro­kos­mos Island entfaltet sich ein Zusam­men­spiel zwischen Familien, Politik, Unter­neh­men, Arbei­ter­schaft, Banken und Medien, das sichtbar und begreif­bar wird: Was am Küchen­tisch bespro­chen wird, findet sich tags darauf im Parlament; der Ehebruch gerät zum öffent­li­chen Faust­kampf in der Talkshow; einen inves­ti­ga­ti­ven Jour­na­lis­ten aus­zu­schal­ten, kostet einen Anruf; die Ent­schei­dung der Quo­ten­kö­ni­gin ihr Unter­neh­men zu verkaufen, führt zum Ruin der Gemeinde, usw.

    Nun mag man dem ent­ge­gen­hal­ten, dass alle Isländer:innen mit­ein­an­der über eine Ecke bekannt sind (wohin­ge­gen anderswo es immerhin sechs Kontake bedarf) und daher die Wege ins „Althing“, dem islän­di­sche Parlament, ent­spre­chend kurz sind. Der Reiz der Serie liegt aber gerade in der Tatsache, dass die einzelnen Sub­sys­te­me bzw. Insti­tu­tio­nen (Familie, Staat, Öffent­lich­keit, Wirt­schaft etc.), ver­kör­pert durch einzelne Figuren, unmit­tel­bar inein­an­der­grei­fen und die gegen­sei­ti­gen Abhän­gig­kei­ten deutlich werden. Damit wird die Kom­ple­xi­tät des Kapi­ta­lis­mus ein Stück fassbarer.

    Es steht nicht die Arbei­ter­schaft auf der einen und die Wirt­schaft auf der anderen Seite. Sondern wie anderswo auch, ringen Menschen mit- und gegen­ein­an­der, die ver­brü­dert, ver­hei­ra­tet, ver­schwä­gert, verliebt oder verhasst sind. Gísli Örn Gar­dars­son, Regisseur, Autor und Haupt­dar­stel­ler, bring es in einem Variety-Interview (2022) auf den Punkt: „Unsere Figuren werden zur Ver­kör­pe­rung des Systems. Sie werden zu dem System und das System wird zu ihnen. Und durch ihre per­sön­li­che Reise bekommen wir hof­fent­lich einen ziemlich klaren Blick auf das, was passiert ist.“ Dass diese „Systeme“ nicht durch­ge­hend korrupt, skru­pel­los und ehrgeizig sind, blitzt da und dort auf. Etwa wenn sich Harpa aus wirt­schaft­lich Gründen zur Geset­zes­über­tre­tung gezwungen sieht und ihr eigenes Handeln kom­men­tiert: „So will ich mein Unter­neh­men nicht führen [müssen]“. Und dennoch ent­schei­det sie, wie auch andere Wirt­schafts­trei­ben­de häufig, gegen das Gemein­wohl. Diese Szene liefert einen perfekten Aus­gangs­punkt für Dis­kus­sio­nen über ethisches wirt­schaft­li­ches Handeln und ist ein Lehr­bei­spiel zur Erläu­te­rung, was im Kapi­ta­lis­mus schiefläuft.

    Mein per­sön­li­ches Highlight von “Blackport” lässt sich ebenfalls durch die Per­so­ni­fi­zie­rung der Systeme deuten. Im Zuge einer großen Aus­söh­nung geben sich Jón, Grímur und Harpa sowie deren befreun­de­tes Teil­ha­ber­paar die Kante und stellen dabei allerlei Blödsinn an, den man selbst den infan­tils­ten Teenagern kaum zutraut. Wenn sie sich etwa gegen­sei­tig mit Fisch bewerfen, so ist das zwar belus­ti­gend, aber ver­kör­pert auch die Beziehung von Politik und Wirt­schaft; wenn sie nach durch­zech­ter Nacht noch voll­trun­ken und kichernd durch die Früh­schicht der Fisch­fa­brik taumeln, dann ist das ebenfalls amüsant, aber steht auch für eine Ver­äp­pe­lung der Arbei­te­rin­nen und Arbeiter seitens der Politik und des Kapitals.

    Zurecht hat die Serie 2023 beim islän­di­scher Film- und Fern­seh­preis Edda abgeräumt. Es bleibt zu hoffen, dass sich das Kreativ-Trio Garðars­son, Filip­pus­dót­tir und­Ha­ralds­son mit dem erprobten Ansatz und mit derselben Gründ­lich­keit weiterer Höhe­punk­te der jüngeren islän­di­schen Wirt­schafts­ge­schich­te annimmt. Als Prequel bieten sich die Kabel­jau­krie­ge der 1970er zwischen Island und Groß­bri­tan­ni­en an, als Sequel die Finanz­kri­se von 2008 mit der daraus resul­tie­ren­den Regierungskrise.

    Refe­ren­zen:
    Sigfusson, T., Arnason, R., & Morrissey, K. (2013). The economic impor­t­ance of the Icelandic fisheries cluster—Understanding the role of fisheries in a small economy. Marine Policy, 39, 154–161.
    Gray, Tim S. (ed.) (1998). The Politics of Fishing. London: Palgrave Macmillan.
    Linville, JD (Jan 31, 2022). Icelandic Series Mania Winner ‘Blackport’ Brings Political Drama, Severed Limbs to Göteborg, Variety.
    Yingst, A., & Skap­ta­dot­tir, U. D. (2018). Gendered labor in the Icelandic fish pro­ces­sing industry. Maritime Studies, 17(2), 125–132.
    Heath, Elizabeth (Feb 8, 2022). How Iceland’s Herring Girls Helped Bring Equality to the Island Nation, Smit­h­so­ni­an Magazine.

    Blackport (Verbúðin, IS, 2021), Gísli Örn Garðarsson, Trailer, EN Untertitel

    Blackport (IS, 2021), filmstill.

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    Night Mail – Der poetische Blick

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    Als der bedeutende Filmwissenschaftler Amos Vogel 1938 aus Wien in die USA fliehen musste, hatte der 17-jährige bereits die Entscheidung getroffen, sein Leben dem Film zu widmen. Das Erlebenis, das sein Zukunft bestimmen sollte, war das Screening von "Night Mail" (1936) und dieser Film weiss auch heute noch zu beeindrucken.

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    Über diesen Blog

    Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes ver­an­schau­licht dieser Blog buch­stäb­lich das weite Feld der Arbeit, Beschäf­ti­gung und Bildung in einer offenen Sammlung aka­de­mi­scher, künst­le­ri­scher und auch anek­do­ti­scher Erkenntnisse.

    Über uns

    Konrad Wakol­bin­ger dreht Doku­men­tar­fil­me über Arbeit und Leben. Jörg Mar­ko­witsch forscht zu Bildung und Arbeit.  Beide leben in Wien. Infor­ma­tio­nen zu Gast­au­toren und ‑autorin­nen finden sich bei ihren jewei­li­gen Beiträgen

    Über uns hinaus

    Interesse an mehr? Wir haben hier Emp­feh­lun­gen zu ein­schlä­gi­gen Festivals, Film­samm­lun­gen und Literatur zusammengestellt.

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