Als die Wirtschaftsbilder laufen lernten
Wer an einer Wirtschaftsfakultät studiert hat, weiß es: Studierende der Volkswirtschaftslehre lernen kaum, Wirklichkeit zu modellieren. Sie lernen vor allem, innerhalb von Modellen zu operieren, indem sie Symbole manipulieren. Und wo nicht hinreichend gelehrt und gelernt wird, durch die Symbole hindurch auf das zu blicken, was sie bedeuten, da drohen Rechnen und Denken schon mal verwechselt zu werden. Das ist kein bloß hochschuldidaktisches, es ist auch ein demokratiepolitisches Problem. Denn in einer aufgeklärten Demokratie geht die Gestaltung von Wirtschaft alle an. Der Drang zur Mathematisierung lässt die Volkswirtinnen und Volkswirte also nicht nur am eigenen Nachwuchs, sondern auch an den Wirtschaftsbürgerinnen und ‑bürgern vorbeiunterrichten.
Ein aktuelles Buch erinnert an einen Lehrfilm von Michael Polanyi aus dem Jahre 1940, der andeutet, dass es auch anders geht (Biro, 2020). Es ist der erste Film überhaupt, der Wirtschaft durch die Brille einer ökonomischen Theorie betrachtet. Er bietet „Keynes to go“ für alle, ist mutig in der didaktischen Reduktion und demonstriert die pädagogische Kraft des bewegten Bildes in der Wirtschaftsdidaktik.
Ich verdanke Jörg Markowitsch den Hinweis auf diesen Film, und er berührt mich, weil ich Jahre mit der Aufarbeitung der erkenntnistheoretischen Arbeiten seines Schöpfers zugebracht habe (Neuweg, 2020). Dass diesem auch um mein Kerngeschäft, die Wirtschaftspädagogik, zu tun war, ist ein seltsamer Zufall.
Michael Polanyi war ursprünglich Chemiker, später Erkenntnistheoretiker und dazwischen kurz Ökonom – sowie sein ebenfalls berühmter Bruder Karl. Bis heute ist er vor allem bekannt als jener Philosoph, der menschliche Erkenntnis von der Tatsache ausgehend untersucht hat, dass „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“. Aber nur scheinbar hat sein Interesse am impliziten Wissen mit seinen eher in Vergessenheit geratenen ökonomischen Arbeiten wenig zu tun. Tatsächlich kreist Polanyis Denken immer um die nicht suspendierbare Kraft des Subjekts und seine persönliche Freiheit – um ein nicht gänzlich objektivierbares und formalisierbares „Personal Knowledge“ (Polanyi, 1958) ebenso wie um ein nicht zentral planbares, auf persönlichen Freiraum angewiesenes Wirtschaftssystem.
Und so will Polanyi mit den damals modernen Mitteln des Films aufklären über einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Planwirtschaft. Als nimmermüder Erinnerer daran, dass Zeichen erst zu Wissen werden, wenn sie mit Bedeutung belegt sind, macht er vor, wie das bewegte Bild Verstehen unterstützen kann – auch wenn den Film, wie er seiner Schwester Mausi einmal geschrieben hat, nur ein kompetenter und begeisterter Lehrer vernünftig zu nutzen vermag (Scott & Moleski, 2005, p. 179).
Georg Hans Neuweg ist Professor für Wirtschafts- und Berufspädagogik an der Johann Kepler Universität in Linz und forscht zu Michael Polanyis Theorie des impliziten Wissens.
Referenzen
Bíró, G. (2020). The Economic Thought of Michael Polanyi. Milton Park, Abingdon and New York: Routledge.
Neuweg, G. H. (2020). Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis (4., aktualis. Aufl.). Münster, New York: Waxmann.
Polanyi, M. (1940). Economics on the Screen. Documentary News Letter (August, 1940): 2.
Polanyi, M. (1958). Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. Chicago: The University of Chicago Press.
Scott, W. T. & Moleski, M. X. (2005). Michael Polanyi. Scientist and Philosopher. Oxford University Press.
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi; das Youtube-Titelbild ziert fälschlicherweise ein Porträt seines nicht minder berühmten Bruders Karl Polanyi; VIDEO BEGINNT NACH 23 SEKUNDEN.K.
Michael Polanyi und der französische Philosoph Raymond Aron (rechts) beim Kongress für kulturelle Freiheit in Mailand Mitte der 1950er
© Courtesy of John C. Polanyi
Michael Polanyi mit seinem Sohn John, der 1986 den Chemie-Nobelpreis erhielt, 1931
© Courtesy of John C. Polanyi
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill
© The Museum of Modern Art Film Library
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill
© The Museum of Modern Art Film Library
Als die Wirtschaftsbilder laufen lernten
Wer an einer Wirtschaftsfakultät studiert hat, weiß es: Studierende der Volkswirtschaftslehre lernen kaum, Wirklichkeit zu modellieren. Sie lernen vor allem, innerhalb von Modellen zu operieren, indem sie Symbole manipulieren. Und wo nicht hinreichend gelehrt und gelernt wird, durch die Symbole hindurch auf das zu blicken, was sie bedeuten, da drohen Rechnen und Denken schon mal verwechselt zu werden. Das ist kein bloß hochschuldidaktisches, es ist auch ein demokratiepolitisches Problem. Denn in einer aufgeklärten Demokratie geht die Gestaltung von Wirtschaft alle an. Der Drang zur Mathematisierung lässt die Volkswirtinnen und Volkswirte also nicht nur am eigenen Nachwuchs, sondern auch an den Wirtschaftsbürgerinnen und ‑bürgern vorbeiunterrichten.
Ein aktuelles Buch erinnert an einen Lehrfilm von Michael Polanyi aus dem Jahre 1940, der andeutet, dass es auch anders geht (Biro, 2020). Es ist der erste Film überhaupt, der Wirtschaft durch die Brille einer ökonomischen Theorie betrachtet. Er bietet „Keynes to go“ für alle, ist mutig in der didaktischen Reduktion und demonstriert die pädagogische Kraft des bewegten Bildes in der Wirtschaftsdidaktik.
Ich verdanke Jörg Markowitsch den Hinweis auf diesen Film, und er berührt mich, weil ich Jahre mit der Aufarbeitung der erkenntnistheoretischen Arbeiten seines Schöpfers zugebracht habe (Neuweg, 2020). Dass diesem auch um mein Kerngeschäft, die Wirtschaftspädagogik, zu tun war, ist ein seltsamer Zufall.
Michael Polanyi war ursprünglich Chemiker, später Erkenntnistheoretiker und dazwischen kurz Ökonom – sowie sein ebenfalls berühmter Bruder Karl. Bis heute ist er vor allem bekannt als jener Philosoph, der menschliche Erkenntnis von der Tatsache ausgehend untersucht hat, dass „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“. Aber nur scheinbar hat sein Interesse am impliziten Wissen mit seinen eher in Vergessenheit geratenen ökonomischen Arbeiten wenig zu tun. Tatsächlich kreist Polanyis Denken immer um die nicht suspendierbare Kraft des Subjekts und seine persönliche Freiheit – um ein nicht gänzlich objektivierbares und formalisierbares „Personal Knowledge“ (Polanyi, 1958) ebenso wie um ein nicht zentral planbares, auf persönlichen Freiraum angewiesenes Wirtschaftssystem.
Und so will Polanyi mit den damals modernen Mitteln des Films aufklären über einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und Planwirtschaft. Als nimmermüder Erinnerer daran, dass Zeichen erst zu Wissen werden, wenn sie mit Bedeutung belegt sind, macht er vor, wie das bewegte Bild Verstehen unterstützen kann – auch wenn den Film, wie er seiner Schwester Mausi einmal geschrieben hat, nur ein kompetenter und begeisterter Lehrer vernünftig zu nutzen vermag (Scott & Moleski, 2005, p. 179).
Georg Hans Neuweg ist Professor für Wirtschafts- und Berufspädagogik an der Johann Kepler Universität in Linz und forscht zu Michael Polanyis Theorie des impliziten Wissens.
Referenzen
Bíró, G. (2020). The Economic Thought of Michael Polanyi. Milton Park, Abingdon and New York: Routledge.
Neuweg, G. H. (2020). Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr-lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis (4., aktualis. Aufl.). Münster, New York: Waxmann.
Polanyi, M. (1940). Economics on the Screen. Documentary News Letter (August, 1940): 2.
Polanyi, M. (1958). Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy. Chicago: The University of Chicago Press.
Scott, W. T. & Moleski, M. X. (2005). Michael Polanyi. Scientist and Philosopher. Oxford University Press.
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi; das Youtube-Titelbild ziert fälschlicherweise ein Porträt seines nicht minder berühmten Bruders Karl Polanyi; VIDEO BEGINNT NACH 23 SEKUNDEN.K.
Michael Polanyi und der französische Philosoph Raymond Aron (rechts) beim Kongress für kulturelle Freiheit in Mailand Mitte der 1950er
© Courtesy of John C. Polanyi
Michael Polanyi mit seinem Sohn John, der 1986 den Chemie-Nobelpreis erhielt, 1931
© Courtesy of John C. Polanyi
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill
© The Museum of Modern Art Film Library
„Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill
© The Museum of Modern Art Film Library
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Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
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Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
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