• en
  • de


  • Als die Wirt­schafts­bil­der laufen lernten


    Georg Hans Neuweg

    Ein aktuelles Buch stellt uns den bedeutenden Erkenntnistheoretiker Michael Polanyi als Wirtschaftsdidaktiker vor und erinnert an seinen noch heute sehenswerten Lehrfilm „Unemployment and Money“ (1940).

    Wer an einer Wirt­schafts­fa­kul­tät studiert hat, weiß es: Stu­die­ren­de der Volks­wirt­schafts­leh­re lernen kaum, Wirk­lich­keit zu model­lie­ren. Sie lernen vor allem, innerhalb von Modellen zu operieren, indem sie Symbole mani­pu­lie­ren. Und wo nicht hin­rei­chend gelehrt und gelernt wird, durch die Symbole hindurch auf das zu blicken, was sie bedeuten, da drohen Rechnen und Denken schon mal ver­wech­selt zu werden. Das ist kein bloß hoch­schul­di­dak­ti­sches, es ist auch ein demo­kra­tie­po­li­ti­sches Problem. Denn in einer auf­ge­klär­ten Demo­kra­tie geht die Gestal­tung von Wirt­schaft alle an. Der Drang zur Mathe­ma­ti­sie­rung lässt die Volks­wir­tin­nen und Volks­wir­te also nicht nur am eigenen Nachwuchs, sondern auch an den Wirt­schafts­bür­ge­rin­nen und ‑bürgern vorbeiunterrichten.

    Ein aktuelles Buch erinnert an einen Lehrfilm von Michael Polanyi aus dem Jahre 1940, der andeutet, dass es auch anders geht (Biro, 2020). Es ist der erste Film überhaupt, der Wirt­schaft durch die Brille einer öko­no­mi­schen Theorie betrach­tet. Er bietet „Keynes to go“ für alle, ist mutig in der didak­ti­schen Reduktion und demons­triert die päd­ago­gi­sche Kraft des bewegten Bildes in der Wirtschaftsdidaktik.

    Ich verdanke Jörg Mar­ko­witsch den Hinweis auf diesen Film, und er berührt mich, weil ich Jahre mit der Auf­ar­bei­tung der erkennt­nis­theo­re­ti­schen Arbeiten seines Schöpfers zuge­bracht habe (Neuweg, 2020). Dass diesem auch um mein Kern­ge­schäft, die Wirt­schafts­päd­ago­gik, zu tun war, ist ein seltsamer Zufall.

    Michael Polanyi war ursprüng­lich Chemiker, später Erkennt­nis­theo­re­ti­ker und dazwi­schen kurz Ökonom – sowie sein ebenfalls berühmter Bruder Karl. Bis heute ist er vor allem bekannt als jener Philosoph, der mensch­li­che Erkennt­nis von der Tatsache ausgehend unter­sucht hat, dass „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“. Aber nur scheinbar hat sein Interesse am impli­zi­ten Wissen mit seinen eher in Ver­ges­sen­heit geratenen öko­no­mi­schen Arbeiten wenig zu tun. Tat­säch­lich kreist Polanyis Denken immer um die nicht sus­pen­dier­ba­re Kraft des Subjekts und seine per­sön­li­che Freiheit – um ein nicht gänzlich objek­ti­vier­ba­res und for­ma­li­sier­ba­res „Personal Knowledge“ (Polanyi, 1958) ebenso wie um ein nicht zentral planbares, auf per­sön­li­chen Freiraum ange­wie­se­nes Wirtschaftssystem.

    Und so will Polanyi mit den damals modernen Mitteln des Films aufklären über einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus und Plan­wirt­schaft. Als nim­mer­mü­der Erinnerer daran, dass Zeichen erst zu Wissen werden, wenn sie mit Bedeutung belegt sind, macht er vor, wie das bewegte Bild Verstehen unter­stüt­zen kann – auch wenn den Film, wie er seiner Schwester Mausi einmal geschrie­ben hat, nur ein kom­pe­ten­ter und begeis­ter­ter Lehrer ver­nünf­tig zu nutzen vermag (Scott & Moleski, 2005, p. 179).

    Georg Hans Neuweg ist Professor für Wirt­schafts- und Berufs­päd­ago­gik an der Johann Kepler Uni­ver­si­tät in Linz und forscht zu Michael Polanyis Theorie des impli­zi­ten Wissens.

    Refe­ren­zen
    Bíró, G. (2020). The Economic Thought of Michael Polanyi. Milton Park, Abingdon and New York: Routledge.
    Neuweg, G. H. (2020). Kön­ner­schaft und impli­zi­tes Wissen. Zur lehr-lern­theo­re­ti­schen Bedeutung der Erkennt­nis- und Wis­sens­theo­rie Michael Polanyis (4., aktualis. Aufl.). Münster, New York: Waxmann.
    Polanyi, M. (1940). Economics on the Screen. Docu­men­ta­ry News Letter (August, 1940): 2.
    Polanyi, M. (1958). Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Phi­lo­so­phy. Chicago: The Uni­ver­si­ty of Chicago Press.
    Scott, W. T. & Moleski, M. X. (2005). Michael Polanyi. Scientist and Phi­lo­so­pher. Oxford Uni­ver­si­ty Press.

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi; das Youtube-Titelbild ziert fälschlicherweise ein Porträt seines nicht minder berühmten Bruders Karl Polanyi; VIDEO BEGINNT NACH 23 SEKUNDEN.K. 

    Michael Polanyi und der französische Philosoph Raymond Aron (rechts) beim Kongress für kulturelle Freiheit in Mailand Mitte der 1950er

    Michael Polanyi mit seinem Sohn John, der 1986 den Chemie-Nobelpreis erhielt, 1931

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill

    Tags

    Als die Wirt­schafts­bil­der laufen lernten

    Georg Hans Neuweg

    Ein aktuelles Buch stellt uns den bedeutenden Erkenntnistheoretiker Michael Polanyi als Wirtschaftsdidaktiker vor und erinnert an seinen noch heute sehenswerten Lehrfilm „Unemployment and Money“ (1940).

    Wer an einer Wirt­schafts­fa­kul­tät studiert hat, weiß es: Stu­die­ren­de der Volks­wirt­schafts­leh­re lernen kaum, Wirk­lich­keit zu model­lie­ren. Sie lernen vor allem, innerhalb von Modellen zu operieren, indem sie Symbole mani­pu­lie­ren. Und wo nicht hin­rei­chend gelehrt und gelernt wird, durch die Symbole hindurch auf das zu blicken, was sie bedeuten, da drohen Rechnen und Denken schon mal ver­wech­selt zu werden. Das ist kein bloß hoch­schul­di­dak­ti­sches, es ist auch ein demo­kra­tie­po­li­ti­sches Problem. Denn in einer auf­ge­klär­ten Demo­kra­tie geht die Gestal­tung von Wirt­schaft alle an. Der Drang zur Mathe­ma­ti­sie­rung lässt die Volks­wir­tin­nen und Volks­wir­te also nicht nur am eigenen Nachwuchs, sondern auch an den Wirt­schafts­bür­ge­rin­nen und ‑bürgern vorbeiunterrichten.

    Ein aktuelles Buch erinnert an einen Lehrfilm von Michael Polanyi aus dem Jahre 1940, der andeutet, dass es auch anders geht (Biro, 2020). Es ist der erste Film überhaupt, der Wirt­schaft durch die Brille einer öko­no­mi­schen Theorie betrach­tet. Er bietet „Keynes to go“ für alle, ist mutig in der didak­ti­schen Reduktion und demons­triert die päd­ago­gi­sche Kraft des bewegten Bildes in der Wirtschaftsdidaktik.

    Ich verdanke Jörg Mar­ko­witsch den Hinweis auf diesen Film, und er berührt mich, weil ich Jahre mit der Auf­ar­bei­tung der erkennt­nis­theo­re­ti­schen Arbeiten seines Schöpfers zuge­bracht habe (Neuweg, 2020). Dass diesem auch um mein Kern­ge­schäft, die Wirt­schafts­päd­ago­gik, zu tun war, ist ein seltsamer Zufall.

    Michael Polanyi war ursprüng­lich Chemiker, später Erkennt­nis­theo­re­ti­ker und dazwi­schen kurz Ökonom – sowie sein ebenfalls berühmter Bruder Karl. Bis heute ist er vor allem bekannt als jener Philosoph, der mensch­li­che Erkennt­nis von der Tatsache ausgehend unter­sucht hat, dass „wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“. Aber nur scheinbar hat sein Interesse am impli­zi­ten Wissen mit seinen eher in Ver­ges­sen­heit geratenen öko­no­mi­schen Arbeiten wenig zu tun. Tat­säch­lich kreist Polanyis Denken immer um die nicht sus­pen­dier­ba­re Kraft des Subjekts und seine per­sön­li­che Freiheit – um ein nicht gänzlich objek­ti­vier­ba­res und for­ma­li­sier­ba­res „Personal Knowledge“ (Polanyi, 1958) ebenso wie um ein nicht zentral planbares, auf per­sön­li­chen Freiraum ange­wie­se­nes Wirtschaftssystem.

    Und so will Polanyi mit den damals modernen Mitteln des Films aufklären über einen dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus und Plan­wirt­schaft. Als nim­mer­mü­der Erinnerer daran, dass Zeichen erst zu Wissen werden, wenn sie mit Bedeutung belegt sind, macht er vor, wie das bewegte Bild Verstehen unter­stüt­zen kann – auch wenn den Film, wie er seiner Schwester Mausi einmal geschrie­ben hat, nur ein kom­pe­ten­ter und begeis­ter­ter Lehrer ver­nünf­tig zu nutzen vermag (Scott & Moleski, 2005, p. 179).

    Georg Hans Neuweg ist Professor für Wirt­schafts- und Berufs­päd­ago­gik an der Johann Kepler Uni­ver­si­tät in Linz und forscht zu Michael Polanyis Theorie des impli­zi­ten Wissens.

    Refe­ren­zen
    Bíró, G. (2020). The Economic Thought of Michael Polanyi. Milton Park, Abingdon and New York: Routledge.
    Neuweg, G. H. (2020). Kön­ner­schaft und impli­zi­tes Wissen. Zur lehr-lern­theo­re­ti­schen Bedeutung der Erkennt­nis- und Wis­sens­theo­rie Michael Polanyis (4., aktualis. Aufl.). Münster, New York: Waxmann.
    Polanyi, M. (1940). Economics on the Screen. Docu­men­ta­ry News Letter (August, 1940): 2.
    Polanyi, M. (1958). Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Phi­lo­so­phy. Chicago: The Uni­ver­si­ty of Chicago Press.
    Scott, W. T. & Moleski, M. X. (2005). Michael Polanyi. Scientist and Phi­lo­so­pher. Oxford Uni­ver­si­ty Press.

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi; das Youtube-Titelbild ziert fälschlicherweise ein Porträt seines nicht minder berühmten Bruders Karl Polanyi; VIDEO BEGINNT NACH 23 SEKUNDEN.K.

    Michael Polanyi und der französische Philosoph Raymond Aron (rechts) beim Kongress für kulturelle Freiheit in Mailand Mitte der 1950er

    Michael Polanyi mit seinem Sohn John, der 1986 den Chemie-Nobelpreis erhielt, 1931

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill

    „Unemployment and Money“ (1940), Michael Polanyi, Filmstill

    Tags


    Adolf Hennecke - Held der Produktionsschlacht

    Adolf Hennecke — Held der Produktionsschlacht

    Wo die Arbeit und das Heroische verschmelzen: Die Glorifizierung der Arbeit im Realsozialismus.

    Die Gesten der Bäcker: ein professioneller Klassiker?

    Die Gesten der Bäcker: ein pro­fes­sio­nel­ler Klassiker?

    Im zeitgenössischen Kino hinterfragen wir selten die völlig aus der Zeit gefallene Bilder von Bäckern und Bäckerinnen bei ihrer Arbeit in der Backstube, etwa in Antoine Fontaines «Gemma Bovery» von 2014 (Gemma Bovery - Bande annonce - YouTube) oder Luke Jins Kurzfilm «La Boulangerie» von 2017 (La Boulangerie (Short Film) on Vimeo). Sollten wir aber!

    Essential Workers vs. Bullshit-Jobs

    Essential Workers vs. Bullshit-Jobs

    Wie wird die Covid-19 Pandemie unsere Berufswelt verändern? Werden Systemerhalter*innen künftig mehr wertgeschätzt oder nehmen 'Bullshit-Jobs' weiter zu?  

    Das Ich im Haar: Über das Können von Friseur*innen

    Das Ich im Haar: Über das Können von Friseur*innen

    Der Schlüssel zur gelungenen Frisur liegt freilich im Können der Friseur*innen. Doch die haarige Kunst erschöpft sich nicht im Instrumentellen, sondern bezieht die ‚Kulturalität‘ des Haars mit ein. Eine zeitgemäße Kritik eines traditionellen Berufsbildes.

    Efficiency kills

    Effi­ci­en­cy kills

    Der 2017 verstorbene US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol fand heraus, warum das Effizienzprinzip den Dienstleistungssektor kaputt macht – und letztlich Covid-Todesopfer mitverantwortet.

    Plädoyer für autochthone Bildungssysteme

    Plädoyer für auto­chtho­ne Bildungssysteme

    "In my blood it runs" (2019) ist ein intimes Porträt eines Aborigine-Jungen und seiner Familie sowie Zeugnis der eklatanten Mängel des australischen Bildungssystems im Umgang mit der indigenen Bevölkerung Australiens.

    1 28 29 30 31 32 48


    Über diesen Blog

    Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes ver­an­schau­licht dieser Blog buch­stäb­lich das weite Feld der Arbeit, Beschäf­ti­gung und Bildung in einer offenen Sammlung aka­de­mi­scher, künst­le­ri­scher und auch anek­do­ti­scher Erkenntnisse.

    Über uns

    Konrad Wakol­bin­ger dreht Doku­men­tar­fil­me über Arbeit und Leben. Jörg Mar­ko­witsch forscht zu Bildung und Arbeit.  Beide leben in Wien. Infor­ma­tio­nen zu Gast­au­toren und ‑autorin­nen finden sich bei ihren jewei­li­gen Beiträgen

    Über uns hinaus

    Interesse an mehr? Wir haben hier Emp­feh­lun­gen zu ein­schlä­gi­gen Festivals, Film­samm­lun­gen und Literatur zusammengestellt.

    Über diesen Blog

    Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes ver­an­schau­licht dieser Blog buch­stäb­lich das weite Feld der Arbeit, Beschäf­ti­gung und Bildung in einer offenen Sammlung aka­de­mi­scher, künst­le­ri­scher und auch anek­do­ti­scher Erkenntnisse.

    Über uns

    Konrad Wakol­bin­ger dreht Doku­men­tar­fil­me über Arbeit und Leben. Jörg Mar­ko­witsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Infor­ma­tio­nen zu Gast­au­toren und ‑autorin­nen finden sich bei ihren jewei­li­gen Beiträgen

    Über uns hinaus

    Interesse an mehr? Wir haben hier Emp­feh­lun­gen zu ein­schlä­gi­gen Festivals, Film­samm­lun­gen und Literatur zusammengestellt.