Das Filmbild als de-subjektivierende Kraft, oder Klassenbildung im Film
Das Bestreben das politische Potential von Bewegtbild zu evaluieren ist weder neu noch wegweisend. Schon seit dem Aufkommen des Mediums haben Kritiker und Gelehrte diskutiert, welche Möglichkeiten der kreativen Interaktion mit audiovisuellen „Texten“ ein Publikum hat, um die wesentlichen Charakteristika und formalen Qualitäten dieses Materials zu verstehen. Sowjetische Filmemacher schufen in Theorie und Praxis ein Kino, das der Revolution diente und direkt darauf abzielte, in den Zuschauern die verschiedenen Facetten einer erneuerten Humanität zu mobilisieren. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verbanden die Analyse der mechanischen Kunstformen mit der Untersuchung des Aufkommens kollektiver, urbaner und industrieller sozialer Formationen. Von Adorno bis zu den Kritikern der Cahiers (du Cinema) und den British Cultural Studies wurden, und werden natürlich weiterhin, viele Strategien zur Erforschung der subversiven, ideologischen, gegenkulturellen oder repressiven Rolle von Kino und Fernsehen ausgearbeitet und angewandt. Die Cultural Studies im Besonderen ermöglichten es den Kritikern ihre Aufmerksamkeit weg von der Exklusivität des „Texts“, hin zur Rolle der Zuseher und ihrer Macht, gegen den Strich zu lesen, zu lenken. So gesehen mag das Unterfangen dieses Aufsatzes, zurück zur Ursprungsfrage zu gehen und zu versuchen, die politische Kraft des Bewegtbildes in seiner audiovisuellen Besonderheit zu betrachten, als ein bisschen altmodisch erscheinen und mit einer Sehnsucht nach den alten Methoden der Filmkritik behaftet.
Dieser Ansatz erscheint noch überholter, wenn wir anerkennen, dass unter postmodernen Bedingungen, die Auseinandersetzung der akademischen Filmkritik mit ihrem Forschungsgegenstand eine radikale Verlagerung erlebte, hin zur Frage, wie das Publikum und soziale Gruppen mit dem Medium Film interagieren. Allerdings sollten wir vor lauter Enthusiasmus über das verborgene Potential der Zuseherschaft nicht davor zurückschrecken, zwei Schlüsselthemen unseres neoliberalen Zeitalters und deren Wirkung auf unsere audiovisuelle Sprache zu thematisieren. Zum einen erkennen wir immer klarer, dass Medienunternehmen als gewalttätige Monopole agieren, indem sie mittels einer strengen Kommandokette ganze Teile der Unterhaltungsbranche kontrollieren und in sich aufsaugen. Die Streiks der amerikanischen Schauspieler*innen- und Drehbuchautor*innenengewerkschaft (SAG-AFTRA/WGA) im zweiten Halbjahr 2023 belegen den Zustand einer Branche, die räuberisch operiert und an deren Spitze Rentier-Kapitalisten sitzen, die ihr Geld ausschließlich in „Content“ investieren, der so einfach wie möglich in alle denkbaren Entertainmentformate verpackt werden kann.
Gleichzeitig, und eben wegen der wirtschaftlichen Umschwünge der letzten fünf Jahrzehnte, haben wir eine Wirtschaft, deren Hauptanliegen es ist, Marketingziele in Form von dataisierbaren Subjekten, die als feste Konsumentenkategorien existieren, zu generieren. Stil, Thematiken und formale Muster sind unerheblich. Denn in diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass wir uns im audiovisuellen Material mit dem wir interagieren, anerkannt sehen und uns darin wiederfinden. Kunst ist nicht dafür da, verborgene Räume zu eröffnen, sondern hat in ansprechender und zufriedenstellender Art und Weise mit den vorgeblichen Bedürfnissen der Zuschauer zu resonieren. Die Illusion der Wahlfreiheit, die häufig mit der Fähigkeit der Prosumer sich im Film- und Fernsehökosystem zurechtzufinden assoziiert wird, bricht zusammen, wenn sie mit der Rolle der Machtstrukturen konfrontiert wird, die offensichtlich den Zugang und die Handlungsmöglichkeiten der Zuseher vermitteln. In diesem Sinn ist es notwendig, dass wieder über die Möglichkeiten gesprochen wird, wie Film und Fernsehen Brüche und kritische Öffnungen innerhalb eines bestimmten sozialen und ideologischen Feldes schaffen können.
Zum Ausgangspunkt meines Reflektierens über die Kraft des Filmbildes mache ich folgende These: die wichtigste Qualität der Filmerfahrung besteht darin, Brüche und Erschütterungen in der Konstruktion von Subjektivität zu generieren. Eines der zentralen Dogmen der neoliberalen Ideologie und Hegemonie unterstellt uns Menschen, dass wir nur als atomisierte Individuen existieren, ausgestattet mit einem Sack voll Erfahrungen, Kompetenzen und Fertigkeiten, die unser Humankapital ausmachen und unser Aktivposten bei allen möglichen Tätigkeiten sind. Gestaltet man auch die Begegnung mit einem Kunstwerk nur als Verstärkung dieses Bildes, begibt man sich der Möglichkeit in der Begegnung mit (non)fiktionalen Erzählwelten neuen Ideen zu gewinnen und verschiedene Seiten der Realität zu erkunden. Allerdings darf die Offenheit der künstlerischen Erfahrung nicht auf die einfache Aneignung des Neuen reduziert werden, das solcherart, auf fundamentale Art und Weise, der Welt in der wir leben, fremd bleibt. (Foucault würde das als „Heteropien“ bezeichnen.) Mit einem Film zu interagieren, bedeutet in gewisser Weise in einen Zustand von verunsichernder Relationalität versetzt zu werden. Der Zuschauer muss mit den Regeln einer besonderen Welt und mit dem Verhalten der Figuren, die sie bewohnen, zu Rande kommen.
Bezogen auf Sabina Spielreins [dürfte so richtig geschrieben sein] Konzept von Erotik, das diese untrennbar mit der Notwendigkeit verbindet egozentrische Modelle zu zerstören, um neue relationale Subjektivitäten bilden zu können, ist die transformatorische Kraft des Filmerlebnisses noch stärker zu bewerten, da es Zuschauer voraussetzt, die sich auf diesen Prozess der Selbstauflösung einlassen. Wir schauen einem Film nicht von Außen zu, sondern werden, abhängig von der ästhetischen Form, Teil dieses Prozesses, der uns aber weder Harmonie noch Klarheit bringt. Und es hat natürlich auch seine Berechtigung, dass bestimmte Geschichten und Verhaltensweisen, die wir in einem Film entdecken, Widerstand in uns als Zuschauer hervorrufen.
Nicht dass ich hier eine Art Modell der angemessenen filmischen Teilnahme vorschlagen möchte, aber ein weiteres wichtiges Element, dass bei der Untersuchung der Offenheit von audiovisueller Sprache berücksichtigt werden muss, ist die Anerkennung ihrer ureigenen Vielfältigkeit. Anstatt zu glauben, künstlerische Objekte zeichnet eine feste formale Konsistenz aus, sollten wir verstehen wie zum Beispiel Film von verschiedenartigen und oftmals gegensätzlichen Spannungen durchdrungen ist. Genau diese Vielstimmigkeit ermöglicht es uns Zusehern*innen, mit unserer Subjektivität zu experimentieren und sie empfänglich für radikale Änderungen und Umgestaltungen zu machen. Wir können uns in Figuren einfühlen und deren sozialen Hintergrund verstehen, auch wenn sie Entscheidungen treffen, die uns ganz fremd sind. Sogar wenn sie Werte und Ideen vertreten die uns abstoßen, können wir noch immer mit diesem Anderssein umgehen und dieses als legitimen Aspekt der Realität, in der wir stecken, akzeptieren. Die dialogische Kraft des Films ist natürlich nicht auf die Fallbeispiele beschränkt, die vermeintlich leicht mit kritischen politischen Anliegen in Verbindung zu bringen sind oder deren explizite (oder auch implizite) Thematiken die Ängste einer bestimmten historischen Konstellation einfangen. Die Möglichkeit, aus der Begegnung mit einem künstlerischen Objekt zu schöpfen, ist nicht das Vorrecht einer bestimmten stilistischen Form, sondern kann auf die Kraft oder den intensiven affektiven und konzeptionellen „Mappings“, die es bietet, zurückgeführt werden.
Wenn schon ein sehr konventionelles Beispiel des Arthouse-Kinos wie Tár (Field, 2022) scharfe Debatten auslöste, dann nicht bloß wegen seiner mutmaßlichen Kritik an der Cancel-Culture. Tatsächlich ist das der wahrscheinlich am wenigsten interessante Aspekt des Films und hat zu eher vordergründigen Unstimmigkeiten geführt. Was mich hingegen an Tár fasziniert ist, dass er uns zu einer Debatte über die Natur von künstlerischer Erfahrung zwingt und über das Verlangen sie uns als etwas zu eigen zu machen, mit der wir die Ideen unseres Selbst faktisch, und jenseits jedes angenommenen Elitismus und künstlerischer Hierarchie, überwinden können. Ohne uns in eine wenig hilfreiche Unterscheidung zwischen Hoch- und Popkultur zu verlieren, können wir, zum vorigen Punkt zurückgehend, uns ansehen, welche Aufforderungen ein Film oder eine Fernsehserie für uns bereithält und was wir damit anfangen können. Hier in diesem Raum unmittelbarer Vielfalt kann ein neues Bewusstsein entstehen und seinen Weg in die Welt finden. Wenn wir Subjekte und deren Anstrengungen oder andere Räume in der audiovisuellen Psychogeographie unserer Realität erkennen, dann wird die Einheit und Geschlossenheit unserer Subjektivität in Frage gestellt.
Die materielle Kraft des Bildes kann ein neues Bewusstsein entfesseln. Bei Karl Marx ist Klassenbildung ein nicht-einheitlicher, kontinuierlicher Prozess der Entdeckung der materiellen Bedingungen und darauf bezogene politischer Handlungsfähigkeit. Demzufolge ist es möglich, dass im Kino neue Subjektivitäten geformt werden, weil wir als Zuseher in einem Zustand der aleatorischen Offenheit existieren. Auch im Gegenstrom der neoliberalen Herrschaft ist ein „zur Klasse werden“ nicht mit dem Erreichen einer reinen revolutionären Wiedergeburt gleichzusetzen. Im Kino, genauso wie in jedem anderen Aspekt unserer alltäglichen Existenz, hat das Freilegen unserer Beziehungsstärke mehr mit dem Bemühen bei der Welt zu bleiben zu tun (Gilles Deleuze würde „ an sie zu glauben“ sagen), sie neu zu imaginieren, ihre Komplexität zu umarmen und dabei bei jeder Gelegenheit neue Waffen, Werkzeuge und Organisationsformen zu finden. Und den Zuschauern bietet sich die aufregende Erfahrung dieses kollektiven Werdens, versteckt in jeden Farbton und jedem Pixel einer Welt, die von Bildschirmen umgeben ist, dar.
Übersetzung aus dem Englischen von Konrad Wakolbinger.
Buchempfehlung:
Sticchi, Francesco (2021): Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction, Palgrave Macmillan.
Das Filmbild als de-subjektivierende Kraft, oder Klassenbildung im Film
Das Bestreben das politische Potential von Bewegtbild zu evaluieren ist weder neu noch wegweisend. Schon seit dem Aufkommen des Mediums haben Kritiker und Gelehrte diskutiert, welche Möglichkeiten der kreativen Interaktion mit audiovisuellen „Texten“ ein Publikum hat, um die wesentlichen Charakteristika und formalen Qualitäten dieses Materials zu verstehen. Sowjetische Filmemacher schufen in Theorie und Praxis ein Kino, das der Revolution diente und direkt darauf abzielte, in den Zuschauern die verschiedenen Facetten einer erneuerten Humanität zu mobilisieren. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verbanden die Analyse der mechanischen Kunstformen mit der Untersuchung des Aufkommens kollektiver, urbaner und industrieller sozialer Formationen. Von Adorno bis zu den Kritikern der Cahiers (du Cinema) und den British Cultural Studies wurden, und werden natürlich weiterhin, viele Strategien zur Erforschung der subversiven, ideologischen, gegenkulturellen oder repressiven Rolle von Kino und Fernsehen ausgearbeitet und angewandt. Die Cultural Studies im Besonderen ermöglichten es den Kritikern ihre Aufmerksamkeit weg von der Exklusivität des „Texts“, hin zur Rolle der Zuseher und ihrer Macht, gegen den Strich zu lesen, zu lenken. So gesehen mag das Unterfangen dieses Aufsatzes, zurück zur Ursprungsfrage zu gehen und zu versuchen, die politische Kraft des Bewegtbildes in seiner audiovisuellen Besonderheit zu betrachten, als ein bisschen altmodisch erscheinen und mit einer Sehnsucht nach den alten Methoden der Filmkritik behaftet.
Dieser Ansatz erscheint noch überholter, wenn wir anerkennen, dass unter postmodernen Bedingungen, die Auseinandersetzung der akademischen Filmkritik mit ihrem Forschungsgegenstand eine radikale Verlagerung erlebte, hin zur Frage, wie das Publikum und soziale Gruppen mit dem Medium Film interagieren. Allerdings sollten wir vor lauter Enthusiasmus über das verborgene Potential der Zuseherschaft nicht davor zurückschrecken, zwei Schlüsselthemen unseres neoliberalen Zeitalters und deren Wirkung auf unsere audiovisuelle Sprache zu thematisieren. Zum einen erkennen wir immer klarer, dass Medienunternehmen als gewalttätige Monopole agieren, indem sie mittels einer strengen Kommandokette ganze Teile der Unterhaltungsbranche kontrollieren und in sich aufsaugen. Die Streiks der amerikanischen Schauspieler*innen- und Drehbuchautor*innenengewerkschaft (SAG-AFTRA/WGA) im zweiten Halbjahr 2023 belegen den Zustand einer Branche, die räuberisch operiert und an deren Spitze Rentier-Kapitalisten sitzen, die ihr Geld ausschließlich in „Content“ investieren, der so einfach wie möglich in alle denkbaren Entertainmentformate verpackt werden kann.
Gleichzeitig, und eben wegen der wirtschaftlichen Umschwünge der letzten fünf Jahrzehnte, haben wir eine Wirtschaft, deren Hauptanliegen es ist, Marketingziele in Form von dataisierbaren Subjekten, die als feste Konsumentenkategorien existieren, zu generieren. Stil, Thematiken und formale Muster sind unerheblich. Denn in diesem Zusammenhang ist entscheidend, dass wir uns im audiovisuellen Material mit dem wir interagieren, anerkannt sehen und uns darin wiederfinden. Kunst ist nicht dafür da, verborgene Räume zu eröffnen, sondern hat in ansprechender und zufriedenstellender Art und Weise mit den vorgeblichen Bedürfnissen der Zuschauer zu resonieren. Die Illusion der Wahlfreiheit, die häufig mit der Fähigkeit der Prosumer sich im Film- und Fernsehökosystem zurechtzufinden assoziiert wird, bricht zusammen, wenn sie mit der Rolle der Machtstrukturen konfrontiert wird, die offensichtlich den Zugang und die Handlungsmöglichkeiten der Zuseher vermitteln. In diesem Sinn ist es notwendig, dass wieder über die Möglichkeiten gesprochen wird, wie Film und Fernsehen Brüche und kritische Öffnungen innerhalb eines bestimmten sozialen und ideologischen Feldes schaffen können.
Zum Ausgangspunkt meines Reflektierens über die Kraft des Filmbildes mache ich folgende These: die wichtigste Qualität der Filmerfahrung besteht darin, Brüche und Erschütterungen in der Konstruktion von Subjektivität zu generieren. Eines der zentralen Dogmen der neoliberalen Ideologie und Hegemonie unterstellt uns Menschen, dass wir nur als atomisierte Individuen existieren, ausgestattet mit einem Sack voll Erfahrungen, Kompetenzen und Fertigkeiten, die unser Humankapital ausmachen und unser Aktivposten bei allen möglichen Tätigkeiten sind. Gestaltet man auch die Begegnung mit einem Kunstwerk nur als Verstärkung dieses Bildes, begibt man sich der Möglichkeit in der Begegnung mit (non)fiktionalen Erzählwelten neuen Ideen zu gewinnen und verschiedene Seiten der Realität zu erkunden. Allerdings darf die Offenheit der künstlerischen Erfahrung nicht auf die einfache Aneignung des Neuen reduziert werden, das solcherart, auf fundamentale Art und Weise, der Welt in der wir leben, fremd bleibt. (Foucault würde das als „Heteropien“ bezeichnen.) Mit einem Film zu interagieren, bedeutet in gewisser Weise in einen Zustand von verunsichernder Relationalität versetzt zu werden. Der Zuschauer muss mit den Regeln einer besonderen Welt und mit dem Verhalten der Figuren, die sie bewohnen, zu Rande kommen.
Bezogen auf Sabina Spielreins [dürfte so richtig geschrieben sein] Konzept von Erotik, das diese untrennbar mit der Notwendigkeit verbindet egozentrische Modelle zu zerstören, um neue relationale Subjektivitäten bilden zu können, ist die transformatorische Kraft des Filmerlebnisses noch stärker zu bewerten, da es Zuschauer voraussetzt, die sich auf diesen Prozess der Selbstauflösung einlassen. Wir schauen einem Film nicht von Außen zu, sondern werden, abhängig von der ästhetischen Form, Teil dieses Prozesses, der uns aber weder Harmonie noch Klarheit bringt. Und es hat natürlich auch seine Berechtigung, dass bestimmte Geschichten und Verhaltensweisen, die wir in einem Film entdecken, Widerstand in uns als Zuschauer hervorrufen.
Nicht dass ich hier eine Art Modell der angemessenen filmischen Teilnahme vorschlagen möchte, aber ein weiteres wichtiges Element, dass bei der Untersuchung der Offenheit von audiovisueller Sprache berücksichtigt werden muss, ist die Anerkennung ihrer ureigenen Vielfältigkeit. Anstatt zu glauben, künstlerische Objekte zeichnet eine feste formale Konsistenz aus, sollten wir verstehen wie zum Beispiel Film von verschiedenartigen und oftmals gegensätzlichen Spannungen durchdrungen ist. Genau diese Vielstimmigkeit ermöglicht es uns Zusehern*innen, mit unserer Subjektivität zu experimentieren und sie empfänglich für radikale Änderungen und Umgestaltungen zu machen. Wir können uns in Figuren einfühlen und deren sozialen Hintergrund verstehen, auch wenn sie Entscheidungen treffen, die uns ganz fremd sind. Sogar wenn sie Werte und Ideen vertreten die uns abstoßen, können wir noch immer mit diesem Anderssein umgehen und dieses als legitimen Aspekt der Realität, in der wir stecken, akzeptieren. Die dialogische Kraft des Films ist natürlich nicht auf die Fallbeispiele beschränkt, die vermeintlich leicht mit kritischen politischen Anliegen in Verbindung zu bringen sind oder deren explizite (oder auch implizite) Thematiken die Ängste einer bestimmten historischen Konstellation einfangen. Die Möglichkeit, aus der Begegnung mit einem künstlerischen Objekt zu schöpfen, ist nicht das Vorrecht einer bestimmten stilistischen Form, sondern kann auf die Kraft oder den intensiven affektiven und konzeptionellen „Mappings“, die es bietet, zurückgeführt werden.
Wenn schon ein sehr konventionelles Beispiel des Arthouse-Kinos wie Tár (Field, 2022) scharfe Debatten auslöste, dann nicht bloß wegen seiner mutmaßlichen Kritik an der Cancel-Culture. Tatsächlich ist das der wahrscheinlich am wenigsten interessante Aspekt des Films und hat zu eher vordergründigen Unstimmigkeiten geführt. Was mich hingegen an Tár fasziniert ist, dass er uns zu einer Debatte über die Natur von künstlerischer Erfahrung zwingt und über das Verlangen sie uns als etwas zu eigen zu machen, mit der wir die Ideen unseres Selbst faktisch, und jenseits jedes angenommenen Elitismus und künstlerischer Hierarchie, überwinden können. Ohne uns in eine wenig hilfreiche Unterscheidung zwischen Hoch- und Popkultur zu verlieren, können wir, zum vorigen Punkt zurückgehend, uns ansehen, welche Aufforderungen ein Film oder eine Fernsehserie für uns bereithält und was wir damit anfangen können. Hier in diesem Raum unmittelbarer Vielfalt kann ein neues Bewusstsein entstehen und seinen Weg in die Welt finden. Wenn wir Subjekte und deren Anstrengungen oder andere Räume in der audiovisuellen Psychogeographie unserer Realität erkennen, dann wird die Einheit und Geschlossenheit unserer Subjektivität in Frage gestellt.
Die materielle Kraft des Bildes kann ein neues Bewusstsein entfesseln. Bei Karl Marx ist Klassenbildung ein nicht-einheitlicher, kontinuierlicher Prozess der Entdeckung der materiellen Bedingungen und darauf bezogene politischer Handlungsfähigkeit. Demzufolge ist es möglich, dass im Kino neue Subjektivitäten geformt werden, weil wir als Zuseher in einem Zustand der aleatorischen Offenheit existieren. Auch im Gegenstrom der neoliberalen Herrschaft ist ein „zur Klasse werden“ nicht mit dem Erreichen einer reinen revolutionären Wiedergeburt gleichzusetzen. Im Kino, genauso wie in jedem anderen Aspekt unserer alltäglichen Existenz, hat das Freilegen unserer Beziehungsstärke mehr mit dem Bemühen bei der Welt zu bleiben zu tun (Gilles Deleuze würde „ an sie zu glauben“ sagen), sie neu zu imaginieren, ihre Komplexität zu umarmen und dabei bei jeder Gelegenheit neue Waffen, Werkzeuge und Organisationsformen zu finden. Und den Zuschauern bietet sich die aufregende Erfahrung dieses kollektiven Werdens, versteckt in jeden Farbton und jedem Pixel einer Welt, die von Bildschirmen umgeben ist, dar.
Übersetzung aus dem Englischen von Konrad Wakolbinger.
Buchempfehlung:
Sticchi, Francesco (2021): Mapping Precarity in Contemporary Cinema and Television: Chronotopes of Anxiety, Depression, Expulsion/Extinction, Palgrave Macmillan.
TÁR (2022) - Official Trailer
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