Die Gesten der Bäcker: ein professioneller Klassiker?
Teig kneten, Brote in den Ofen schieben, sie herausnehmen und sie in die Auslagen der Bäckerei zu stellen, all das sind altvertraute Gesten, die für uns untrennbar mit der Vorstellung verbunden sind, die wir vom Bäckerhandwerk haben. Und doch… Seit Jahrzehnten wird Brot in Fabriken hergestellt, in denen nicht mehr “Hand an den Teig gelegt”, sondern auf die Steuerung von Maschinen vertraut wird (siehe etwa: Dans les coulisses de la plus grande boulangerie industrielle de France — YouTube).
Wie kommt es, dass im Film diese Gesten gezeigt werden, als ob sie immer noch zum Wesen der Brotherstellung gehörten, obwohl sie in der Realität längst zur Ausnahme geworden sind? Und vor allem: Wie ist es möglich, dass diese Gesten nicht als Relikte einer vergangenen Zeit erscheinen, sondern weiterhin als relevant und aktuell wahrgenommen werden? In beiden erwähnten Filmen verleihen diese Gesten den Protagonisten eine gewisse Autorität. Ihre professionelle Kompetenz verschafft ihnen den Respekt oder die Bewunderung der anderen Figuren im Film.
Ich würde meinen, dass diese Gesten “Klassiker” sind, ähnlich wie in der Literatur. Wie Hans-Georg Gadamer betonte, besteht die Besonderheit von Klassiker darin, dass sie die Zeiten überdauern und immer relevant bleiben. Die klassische Dimension dieser Gesten baut auf mehreren Ebenen auf. Zunächst einmal auf ihrer Wiedererkennbarkeit: Jeder Zuschauer, jede Zuschauerin wird die Geste des Teigknetens schnell erkennen, und zwar selbst dann, wenn er oder sie nie selbst geknetet oder einem Profi beim Kneten zugesehen hat. Zweitens ihre Essenzialisierung: Diese Gesten werden als tiefster Wesensteil des Berufs erkannt, und zwar unabhängig von der industriellen Entwicklung der Brotherstellung. Schließlich ihre Aufwertung: Sie gelten als edle Gesten, die auf ein bewundernswertes Know-how verweisen, und die Menschen, die sie ausführen, verdienen den Respekt von allen Brotliebhabern und ‑liebhaberinnen.
Aber die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Warum sind die Gesten der Bäcker und Bäckerinnen solch zeitlose Klassiker geworden? Bei anderen handwerkliche Gesten, die ebenfalls durch die Industrialisierung verschwunden sind, etwa jene des Gerbens oder Webens, ist dies nicht der Fall. Sie tauchen weder in Kinofilmen noch in der Werbung auf. Bestenfalls in Dokumentationen über alte Handwerkspraktiken, bei denen die Menschen, die diese Gesten noch beherrschen, als letzte ihrer Art porträtiert werden. Warum ist dies beim Bäckerberuf anders?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zum Film “Gemma Bovery” zurückkehren und Fabrice Lucchini, der den Bäcker spielt, zuhören. In einer Szene, die in der Backstube gedreht wurde, erklärt Lucchini der schönen Gemma Arterton, die sinnlich einen Teig knetet, dass «Brot zu berühren bedeutet, die Erde zu berühren. Die ursprüngliche Kruste, aus der das Leben entstanden ist». Die klassische Dimension dieser Gesten wäre dann eine Form der Verbundenheit mit den Ursprüngen, mit den Gesten der Ahnen, die uns an die direkte Beziehung mit der Erde erinnern, welche den Weizen hervorbringt und uns Leben schenkt. Eine Beziehung, auf die wir zumindest in unserer Vorstellung nicht verzichten wollen. Trotz des Wissens um die industrielle Fertigung unseres täglichen Brotes und der Tatsache, dass es sich bei der Arbeit in der Bäckerei weiterhin um anstrengende Nachtarbeit für einen bescheidenen Lohn handelt.
Lorenzo Bonoli ist Philosoph und Senior Researcher am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) in Lausanne.
Gemma Bovery, 2014, Anne Fontaine, Fabrice Luchini, France
La Boulangerie, 2017, Kurzfilm, 13min, by Luke Jin
Einblick in die größte industrielle Bäckerei Frankreichs, 2015, BFMTV
Fabrice Luchini in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
Die Gesten der Bäcker: ein professioneller Klassiker?
Teig kneten, Brote in den Ofen schieben, sie herausnehmen und sie in die Auslagen der Bäckerei zu stellen, all das sind altvertraute Gesten, die für uns untrennbar mit der Vorstellung verbunden sind, die wir vom Bäckerhandwerk haben. Und doch… Seit Jahrzehnten wird Brot in Fabriken hergestellt, in denen nicht mehr “Hand an den Teig gelegt”, sondern auf die Steuerung von Maschinen vertraut wird (siehe etwa: Dans les coulisses de la plus grande boulangerie industrielle de France — YouTube).
Wie kommt es, dass im Film diese Gesten gezeigt werden, als ob sie immer noch zum Wesen der Brotherstellung gehörten, obwohl sie in der Realität längst zur Ausnahme geworden sind? Und vor allem: Wie ist es möglich, dass diese Gesten nicht als Relikte einer vergangenen Zeit erscheinen, sondern weiterhin als relevant und aktuell wahrgenommen werden? In beiden erwähnten Filmen verleihen diese Gesten den Protagonisten eine gewisse Autorität. Ihre professionelle Kompetenz verschafft ihnen den Respekt oder die Bewunderung der anderen Figuren im Film.
Ich würde meinen, dass diese Gesten “Klassiker” sind, ähnlich wie in der Literatur. Wie Hans-Georg Gadamer betonte, besteht die Besonderheit von Klassiker darin, dass sie die Zeiten überdauern und immer relevant bleiben. Die klassische Dimension dieser Gesten baut auf mehreren Ebenen auf. Zunächst einmal auf ihrer Wiedererkennbarkeit: Jeder Zuschauer, jede Zuschauerin wird die Geste des Teigknetens schnell erkennen, und zwar selbst dann, wenn er oder sie nie selbst geknetet oder einem Profi beim Kneten zugesehen hat. Zweitens ihre Essenzialisierung: Diese Gesten werden als tiefster Wesensteil des Berufs erkannt, und zwar unabhängig von der industriellen Entwicklung der Brotherstellung. Schließlich ihre Aufwertung: Sie gelten als edle Gesten, die auf ein bewundernswertes Know-how verweisen, und die Menschen, die sie ausführen, verdienen den Respekt von allen Brotliebhabern und ‑liebhaberinnen.
Aber die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Warum sind die Gesten der Bäcker und Bäckerinnen solch zeitlose Klassiker geworden? Bei anderen handwerkliche Gesten, die ebenfalls durch die Industrialisierung verschwunden sind, etwa jene des Gerbens oder Webens, ist dies nicht der Fall. Sie tauchen weder in Kinofilmen noch in der Werbung auf. Bestenfalls in Dokumentationen über alte Handwerkspraktiken, bei denen die Menschen, die diese Gesten noch beherrschen, als letzte ihrer Art porträtiert werden. Warum ist dies beim Bäckerberuf anders?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zum Film “Gemma Bovery” zurückkehren und Fabrice Lucchini, der den Bäcker spielt, zuhören. In einer Szene, die in der Backstube gedreht wurde, erklärt Lucchini der schönen Gemma Arterton, die sinnlich einen Teig knetet, dass «Brot zu berühren bedeutet, die Erde zu berühren. Die ursprüngliche Kruste, aus der das Leben entstanden ist». Die klassische Dimension dieser Gesten wäre dann eine Form der Verbundenheit mit den Ursprüngen, mit den Gesten der Ahnen, die uns an die direkte Beziehung mit der Erde erinnern, welche den Weizen hervorbringt und uns Leben schenkt. Eine Beziehung, auf die wir zumindest in unserer Vorstellung nicht verzichten wollen. Trotz des Wissens um die industrielle Fertigung unseres täglichen Brotes und der Tatsache, dass es sich bei der Arbeit in der Bäckerei weiterhin um anstrengende Nachtarbeit für einen bescheidenen Lohn handelt.
Lorenzo Bonoli ist Philosoph und Senior Researcher am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung (EHB) in Lausanne.
Gemma Bovery, 2014, Anne Fontaine, Fabrice Luchini, France
La Boulangerie, 2017, Kurzfilm, 13min, by Luke Jin
Einblick in die größte industrielle Bäckerei Frankreichs, 2015, BFMTV
Fabrice Luchini in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich
© Gaumont
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Der Künstler Darcy Lange lieferte mit der Kamera bedeutendes wissenschaftliches Material zu Arbeit und Bildung, das es in der Sozial- und Bildungsforschung noch aufzuarbeiten gilt.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
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