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  • Die Gesten der Bäcker: ein pro­fes­sio­nel­ler Klassiker?


    Lorenzo Bonoli

    Im zeitgenössischen Kino hinterfragen wir selten die völlig aus der Zeit gefallene Bilder von Bäckern und Bäckerinnen bei ihrer Arbeit in der Backstube, etwa in Antoine Fontaines «Gemma Bovery» von 2014 (Gemma Bovery - Bande annonce - YouTube) oder Luke Jins Kurzfilm «La Boulangerie» von 2017 (La Boulangerie (Short Film) on Vimeo). Sollten wir aber!

    Teig kneten, Brote in den Ofen schieben, sie her­aus­neh­men und sie in die Auslagen der Bäckerei zu stellen, all das sind alt­ver­trau­te Gesten, die für uns untrenn­bar mit der Vor­stel­lung verbunden sind, die wir vom Bäcker­hand­werk haben. Und doch… Seit Jahr­zehn­ten wird Brot in Fabriken her­ge­stellt, in denen nicht mehr “Hand an den Teig gelegt”, sondern auf die Steuerung von Maschinen vertraut wird (siehe etwa: Dans les coulisses de la plus grande bou­lan­ge­rie indus­tri­el­le de France — YouTube).

    Wie kommt es, dass im Film diese Gesten gezeigt werden, als ob sie immer noch zum Wesen der Bro­ther­stel­lung gehörten, obwohl sie in der Realität längst zur Ausnahme geworden sind? Und vor allem: Wie ist es möglich, dass diese Gesten nicht als Relikte einer ver­gan­ge­nen Zeit erschei­nen, sondern weiterhin als relevant und aktuell wahr­ge­nom­men werden? In beiden erwähnten Filmen verleihen diese Gesten den Prot­ago­nis­ten eine gewisse Autorität. Ihre pro­fes­sio­nel­le Kompetenz ver­schafft ihnen den Respekt oder die Bewun­de­rung der anderen Figuren im Film.

    Ich würde meinen, dass diese Gesten “Klassiker” sind, ähnlich wie in der Literatur. Wie Hans-Georg Gadamer betonte, besteht die Beson­der­heit von Klassiker darin, dass sie die Zeiten über­dau­ern und immer relevant bleiben. Die klas­si­sche Dimension dieser Gesten baut auf mehreren Ebenen auf. Zunächst einmal auf ihrer Wie­der­erkenn­bar­keit: Jeder Zuschauer, jede Zuschaue­rin wird die Geste des Teig­kne­tens schnell erkennen, und zwar selbst dann, wenn er oder sie nie selbst geknetet oder einem Profi beim Kneten zugesehen hat. Zweitens ihre Essen­zia­li­sie­rung: Diese Gesten werden als tiefster Wesens­teil des Berufs erkannt, und zwar unab­hän­gig von der indus­tri­el­len Ent­wick­lung der Bro­ther­stel­lung. Schließ­lich ihre Auf­wer­tung: Sie gelten als edle Gesten, die auf ein bewun­derns­wer­tes Know-how verweisen, und die Menschen, die sie ausführen, verdienen den Respekt von allen Brot­lieb­ha­bern und ‑lieb­ha­be­rin­nen.

    Aber die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Warum sind die Gesten der Bäcker und Bäcke­rin­nen solch zeitlose Klassiker geworden? Bei anderen hand­werk­li­che Gesten, die ebenfalls durch die Indus­tria­li­sie­rung ver­schwun­den sind, etwa jene des Gerbens oder Webens, ist dies nicht der Fall. Sie tauchen weder in Kino­fil­men noch in der Werbung auf. Bes­ten­falls in Doku­men­ta­tio­nen über alte Hand­werks­prak­ti­ken, bei denen die Menschen, die diese Gesten noch beherr­schen, als letzte ihrer Art por­trä­tiert werden. Warum ist dies beim Bäcker­be­ruf anders?

    Um diese Frage zu beant­wor­ten, müssen wir zum Film “Gemma Bovery” zurück­keh­ren und Fabrice Lucchini, der den Bäcker spielt, zuhören. In einer Szene, die in der Backstube gedreht wurde, erklärt Lucchini der schönen Gemma Arterton, die sinnlich einen Teig knetet, dass «Brot zu berühren bedeutet, die Erde zu berühren. Die ursprüng­li­che Kruste, aus der das Leben ent­stan­den ist». Die klas­si­sche Dimension dieser Gesten wäre dann eine Form der Ver­bun­den­heit mit den Ursprün­gen, mit den Gesten der Ahnen, die uns an die direkte Beziehung mit der Erde erinnern, welche den Weizen her­vor­bringt und uns Leben schenkt. Eine Beziehung, auf die wir zumindest in unserer Vor­stel­lung nicht ver­zich­ten wollen. Trotz des Wissens um die indus­tri­el­le Fertigung unseres täglichen Brotes und der Tatsache, dass es sich bei der Arbeit in der Bäckerei weiterhin um anstren­gen­de Nacht­ar­beit für einen beschei­de­nen Lohn handelt.

    Lorenzo Bonoli ist Philosoph und Senior Rese­ar­cher am Eid­ge­nös­si­schen Hoch­schul­in­sti­tut für Berufs­bil­dung (EHB) in Lausanne.

    Gemma Bovery, 2014, Anne Fontaine, Fabrice Luchini, France  

    La Boulangerie, 2017, Kurzfilm, 13min, by Luke Jin 

    Einblick in die größte industrielle Bäckerei Frankreichs, 2015, BFMTV 

    Fabrice Luchini in Gemma Bovery, 2014, Frankreich

    Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich

    Fabrice Luchini and Gemma Arterton in Gemma Bovery, 2014, Frankreich

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    Die Gesten der Bäcker: ein pro­fes­sio­nel­ler Klassiker?

    Lorenzo Bonoli

    Im zeitgenössischen Kino hinterfragen wir selten die völlig aus der Zeit gefallene Bilder von Bäckern und Bäckerinnen bei ihrer Arbeit in der Backstube, etwa in Antoine Fontaines «Gemma Bovery» von 2014 (Gemma Bovery - Bande annonce - YouTube) oder Luke Jins Kurzfilm «La Boulangerie» von 2017 (La Boulangerie (Short Film) on Vimeo). Sollten wir aber!

    Teig kneten, Brote in den Ofen schieben, sie her­aus­neh­men und sie in die Auslagen der Bäckerei zu stellen, all das sind alt­ver­trau­te Gesten, die für uns untrenn­bar mit der Vor­stel­lung verbunden sind, die wir vom Bäcker­hand­werk haben. Und doch… Seit Jahr­zehn­ten wird Brot in Fabriken her­ge­stellt, in denen nicht mehr “Hand an den Teig gelegt”, sondern auf die Steuerung von Maschinen vertraut wird (siehe etwa: Dans les coulisses de la plus grande bou­lan­ge­rie indus­tri­el­le de France — YouTube).

    Wie kommt es, dass im Film diese Gesten gezeigt werden, als ob sie immer noch zum Wesen der Bro­ther­stel­lung gehörten, obwohl sie in der Realität längst zur Ausnahme geworden sind? Und vor allem: Wie ist es möglich, dass diese Gesten nicht als Relikte einer ver­gan­ge­nen Zeit erschei­nen, sondern weiterhin als relevant und aktuell wahr­ge­nom­men werden? In beiden erwähnten Filmen verleihen diese Gesten den Prot­ago­nis­ten eine gewisse Autorität. Ihre pro­fes­sio­nel­le Kompetenz ver­schafft ihnen den Respekt oder die Bewun­de­rung der anderen Figuren im Film.

    Ich würde meinen, dass diese Gesten “Klassiker” sind, ähnlich wie in der Literatur. Wie Hans-Georg Gadamer betonte, besteht die Beson­der­heit von Klassiker darin, dass sie die Zeiten über­dau­ern und immer relevant bleiben. Die klas­si­sche Dimension dieser Gesten baut auf mehreren Ebenen auf. Zunächst einmal auf ihrer Wie­der­erkenn­bar­keit: Jeder Zuschauer, jede Zuschaue­rin wird die Geste des Teig­kne­tens schnell erkennen, und zwar selbst dann, wenn er oder sie nie selbst geknetet oder einem Profi beim Kneten zugesehen hat. Zweitens ihre Essen­zia­li­sie­rung: Diese Gesten werden als tiefster Wesens­teil des Berufs erkannt, und zwar unab­hän­gig von der indus­tri­el­len Ent­wick­lung der Bro­ther­stel­lung. Schließ­lich ihre Auf­wer­tung: Sie gelten als edle Gesten, die auf ein bewun­derns­wer­tes Know-how verweisen, und die Menschen, die sie ausführen, verdienen den Respekt von allen Brot­lieb­ha­bern und ‑lieb­ha­be­rin­nen.

    Aber die Frage, die sich nun stellt, ist folgende: Warum sind die Gesten der Bäcker und Bäcke­rin­nen solch zeitlose Klassiker geworden? Bei anderen hand­werk­li­che Gesten, die ebenfalls durch die Indus­tria­li­sie­rung ver­schwun­den sind, etwa jene des Gerbens oder Webens, ist dies nicht der Fall. Sie tauchen weder in Kino­fil­men noch in der Werbung auf. Bes­ten­falls in Doku­men­ta­tio­nen über alte Hand­werks­prak­ti­ken, bei denen die Menschen, die diese Gesten noch beherr­schen, als letzte ihrer Art por­trä­tiert werden. Warum ist dies beim Bäcker­be­ruf anders?

    Um diese Frage zu beant­wor­ten, müssen wir zum Film “Gemma Bovery” zurück­keh­ren und Fabrice Lucchini, der den Bäcker spielt, zuhören. In einer Szene, die in der Backstube gedreht wurde, erklärt Lucchini der schönen Gemma Arterton, die sinnlich einen Teig knetet, dass «Brot zu berühren bedeutet, die Erde zu berühren. Die ursprüng­li­che Kruste, aus der das Leben ent­stan­den ist». Die klas­si­sche Dimension dieser Gesten wäre dann eine Form der Ver­bun­den­heit mit den Ursprün­gen, mit den Gesten der Ahnen, die uns an die direkte Beziehung mit der Erde erinnern, welche den Weizen her­vor­bringt und uns Leben schenkt. Eine Beziehung, auf die wir zumindest in unserer Vor­stel­lung nicht ver­zich­ten wollen. Trotz des Wissens um die indus­tri­el­le Fertigung unseres täglichen Brotes und der Tatsache, dass es sich bei der Arbeit in der Bäckerei weiterhin um anstren­gen­de Nacht­ar­beit für einen beschei­de­nen Lohn handelt.

    Lorenzo Bonoli ist Philosoph und Senior Rese­ar­cher am Eid­ge­nös­si­schen Hoch­schul­in­sti­tut für Berufs­bil­dung (EHB) in Lausanne.

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