Plädoyer für autochthone Bildungssysteme
Der jüngste Film von Maya Newell, gesehen beim heuer erstmals online abgehaltenen Festival ‚This Human World’, übersteigt den Anspruch, den ein Film gewöhnlich an sich stellt. Er ist Teil einer umfassenden Kampagne für die Verbesserung der Bildungschancen australischer Ureinwohner, die einen ersten Höhepunkt in der kurzen Rede des Stars des Films, des 12-jährige Dujuan, vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf hatte.
Begleitet von seinem Vater fordert der mit sympathischer Leseschwäche ausgestattet Dujuan, als angeblich jüngste Redner in der Geschichte des Rates, dass die australische Regierung aufhören müsse, 10-Jährige ins Gefängnis zu stecken und zu misshandeln, und dass Aborigines ihre eigenen Schulen brauchen.
Damit ist eigentlich auch die Mission des Films beschrieben, aber noch nichts über den Film selbst gesagt. Der dokumentarische Spielfilm schildert aus der Perspektive des damals 10 Jahre alten Dujuan den Schul- und Familienalltag in Alice Springs und thematisiert dabei die Diskrepanz zwischen den Werten und Vorstellungen der staatlichen Schulbildung und der traditionellen Arrernte-Erziehung (Die Arrernte sind ein Stamm der Aborigines in Zentral-Australien, die in und rund um Alice Springs leben). Immer wieder eingeflochten wird die grausame Assimilationspolitik des vorigen Jahrhunderts sowie ein aktueller Misshandlungsskandal im Jugendstraffvollzug (Strafmündigkeit beginnt in Australien im Alter von 10 Jahren; 100 % der inhaftierten Kinder und Jugendlichen sind Aborigines).
Prototypisch für den Film und dessen Thema ist jene Szene, in der die Klassenlehrerin anhand eines illustrierten Schulbuchs erklärt, dass die Geschichte Australiens mit der Entdeckung des Kontinents durch Kapitän Cook begann und damit die 65000 Jahre Geschichte der Aborigines schlicht ignoriert. Als Zuschauer ist man kurz fassungslos und beginnt an der Glaubwürdigkeit der Dokumentation zu zweifeln. Dujuan hingegen verliert nie die Fassung, bleibt stets reflektiv und kommentiert das Unglaubliche lapidar mit: „Die Geschichte, die wir in der Schule lernen, ist für Weiße“.
Die tiefere Brisanz des Films liegt meines Erachtens in der Frage: Wie weit kann ein vollkommen anderes Bildungsverständnis in einer Mehrheitsgesellschaft überhaupt Platz finden? Wie weit bleibt, vor dem Hintergrund einer globalen Hegemonie der Schlüsselkompetenzen, Raum für eine Bildungskonzeption, die völlig andere basale Fertigkeiten bevorzugt? Nationale Bildungssysteme tendieren dazu, homogenisiertes nationales oder globales Wissen zu lehren und dabei indigene Kulturen als unwissend, veraltet oder rückständig darzustellen (Smith, Tuck & Yang, 2019). Diese Grundsatzproblematik kann in Europa wohl ansatzweise nur am Fall der Roma und Sinti nachvollzogen werden (siehe dazu auch den Dokumentarfilm „Der zornige Buddha“ von Stefan Ludwig aus dem Jahr 2016). Die Forderung nach Unterricht in der Sprache der Minderheit ist dabei ein wichtiger und offensichtlicher Aspekt, der auch im Film nicht zu kurz kommt. Wie weitere Elemente einer indigenen Grundbildung aussehen könnten, bleibt aber offen.
Der Film zeigt wie Dujuan Buschmedizin sammelt oder wie er lernt einen Truck durch das Outback zu steuern, obwohl er kaum über das Armaturenbrett hinaussieht. Das aber kann nicht der große Gegenentwurf zum dominanten Bildungsparadigma sein, wenngleich ich seine Aufregung über dieses prägende Lernerlebnis gut nachvollziehen kann. Denn viel älter war ich und mein Cousin als mein ‚Fahrlehrer’ beim ersten Fahrversuch mit dem Traktor meines Onkels wohl auch nicht.
Der symbolische Schluss des Films deutet dann doch noch auf eine mögliche größere Dimension hin. Dujuan lernt das Buschland zielgerichtet abzubrennen. Damit imitieren und unterstützen die Aborigines den natürlichen Kreislauf der australischen Natur. Der Film verweist dabei auf ein jahrtausendealtes nicht-kodifizierbares Wissen der Ureinwohner, das im Kampf gegen die zunehmend verheerenderen Waldbrände in Australien zum Einsatz kommen könnte (Bardsley, Prowse und Siegfriedt, 2019).
„In my blood it runs“ wurde in Zusammenarbeit mit Arrernte-NGOs realisiert. Von der Entstehung bis zur Vermarktung, ist der Film ein Musterbeispiel politisch engagierten Kinos – zur Dekolonialisierung von Bildung.
Referenzen:
https://inmyblooditruns.com/
World Indigenous Peoples’ Conference on Education (WIPCE)
Smith, L. T., Tuck, E., & Yang, K. W. (2019). Indigenous and decolonizing studies in education: Mapping the long view. New York: Routledge.
Bardsley, D. K., Prowse, T. A., & Siegfriedt, C. (2019). Seeking knowledge of traditional Indigenous burning practices to inform regional bushfire management. Local Environment, 24(8), 727–745.
Dujuan’s kurze Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf
Maya Newell, In my blood it runs, 2019, Australien, Trailer
Dujuan mit dem Truck durch das Outback, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
Dujuan in der Schule, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
Dujuan mit seiner Mutter, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
Plädoyer für autochthone Bildungssysteme
Der jüngste Film von Maya Newell, gesehen beim heuer erstmals online abgehaltenen Festival ‚This Human World’, übersteigt den Anspruch, den ein Film gewöhnlich an sich stellt. Er ist Teil einer umfassenden Kampagne für die Verbesserung der Bildungschancen australischer Ureinwohner, die einen ersten Höhepunkt in der kurzen Rede des Stars des Films, des 12-jährige Dujuan, vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf hatte.
Begleitet von seinem Vater fordert der mit sympathischer Leseschwäche ausgestattet Dujuan, als angeblich jüngste Redner in der Geschichte des Rates, dass die australische Regierung aufhören müsse, 10-Jährige ins Gefängnis zu stecken und zu misshandeln, und dass Aborigines ihre eigenen Schulen brauchen.
Damit ist eigentlich auch die Mission des Films beschrieben, aber noch nichts über den Film selbst gesagt. Der dokumentarische Spielfilm schildert aus der Perspektive des damals 10 Jahre alten Dujuan den Schul- und Familienalltag in Alice Springs und thematisiert dabei die Diskrepanz zwischen den Werten und Vorstellungen der staatlichen Schulbildung und der traditionellen Arrernte-Erziehung (Die Arrernte sind ein Stamm der Aborigines in Zentral-Australien, die in und rund um Alice Springs leben). Immer wieder eingeflochten wird die grausame Assimilationspolitik des vorigen Jahrhunderts sowie ein aktueller Misshandlungsskandal im Jugendstraffvollzug (Strafmündigkeit beginnt in Australien im Alter von 10 Jahren; 100 % der inhaftierten Kinder und Jugendlichen sind Aborigines).
Prototypisch für den Film und dessen Thema ist jene Szene, in der die Klassenlehrerin anhand eines illustrierten Schulbuchs erklärt, dass die Geschichte Australiens mit der Entdeckung des Kontinents durch Kapitän Cook begann und damit die 65000 Jahre Geschichte der Aborigines schlicht ignoriert. Als Zuschauer ist man kurz fassungslos und beginnt an der Glaubwürdigkeit der Dokumentation zu zweifeln. Dujuan hingegen verliert nie die Fassung, bleibt stets reflektiv und kommentiert das Unglaubliche lapidar mit: „Die Geschichte, die wir in der Schule lernen, ist für Weiße“.
Die tiefere Brisanz des Films liegt meines Erachtens in der Frage: Wie weit kann ein vollkommen anderes Bildungsverständnis in einer Mehrheitsgesellschaft überhaupt Platz finden? Wie weit bleibt, vor dem Hintergrund einer globalen Hegemonie der Schlüsselkompetenzen, Raum für eine Bildungskonzeption, die völlig andere basale Fertigkeiten bevorzugt? Nationale Bildungssysteme tendieren dazu, homogenisiertes nationales oder globales Wissen zu lehren und dabei indigene Kulturen als unwissend, veraltet oder rückständig darzustellen (Smith, Tuck & Yang, 2019). Diese Grundsatzproblematik kann in Europa wohl ansatzweise nur am Fall der Roma und Sinti nachvollzogen werden (siehe dazu auch den Dokumentarfilm „Der zornige Buddha“ von Stefan Ludwig aus dem Jahr 2016). Die Forderung nach Unterricht in der Sprache der Minderheit ist dabei ein wichtiger und offensichtlicher Aspekt, der auch im Film nicht zu kurz kommt. Wie weitere Elemente einer indigenen Grundbildung aussehen könnten, bleibt aber offen.
Der Film zeigt wie Dujuan Buschmedizin sammelt oder wie er lernt einen Truck durch das Outback zu steuern, obwohl er kaum über das Armaturenbrett hinaussieht. Das aber kann nicht der große Gegenentwurf zum dominanten Bildungsparadigma sein, wenngleich ich seine Aufregung über dieses prägende Lernerlebnis gut nachvollziehen kann. Denn viel älter war ich und mein Cousin als mein ‚Fahrlehrer’ beim ersten Fahrversuch mit dem Traktor meines Onkels wohl auch nicht.
Der symbolische Schluss des Films deutet dann doch noch auf eine mögliche größere Dimension hin. Dujuan lernt das Buschland zielgerichtet abzubrennen. Damit imitieren und unterstützen die Aborigines den natürlichen Kreislauf der australischen Natur. Der Film verweist dabei auf ein jahrtausendealtes nicht-kodifizierbares Wissen der Ureinwohner, das im Kampf gegen die zunehmend verheerenderen Waldbrände in Australien zum Einsatz kommen könnte (Bardsley, Prowse und Siegfriedt, 2019).
„In my blood it runs“ wurde in Zusammenarbeit mit Arrernte-NGOs realisiert. Von der Entstehung bis zur Vermarktung, ist der Film ein Musterbeispiel politisch engagierten Kinos – zur Dekolonialisierung von Bildung.
Referenzen:
https://inmyblooditruns.com/
World Indigenous Peoples’ Conference on Education (WIPCE)
Smith, L. T., Tuck, E., & Yang, K. W. (2019). Indigenous and decolonizing studies in education: Mapping the long view. New York: Routledge.
Bardsley, D. K., Prowse, T. A., & Siegfriedt, C. (2019). Seeking knowledge of traditional Indigenous burning practices to inform regional bushfire management. Local Environment, 24(8), 727–745.
Dujuan’s kurze Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf
Maya Newell, In my blood it runs, 2019, Australien, Trailer
Dujuan mit dem Truck durch das Outback, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
Dujuan in der Schule, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
Dujuan mit seiner Mutter, In my blood it runs, 2019, Filmstill
© Maya Newell
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