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  • Der Schmäh mit der Eigenverantwortung


    Joachim Schätz

    Die schöne, zornige Gig Economy-Komödie „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ (2023, Radu Jude) muss in Bukarest nicht lang nach Ausbeutungsverhältnissen suchen, sondern findet sie bereits unterwegs im Auto einer Produktionsassistentin.

    Hilfe, die Öster­rei­cher kommen! Weil ein öster­rei­chi­sches Unter­neh­men für seine rumä­ni­sche Fabrik ein Arbeits­si­cher­heits-Video in Auftrag gegeben hat, rast Pro­duk­ti­ons­as­sis­ten­tin Angela (Ilinca Manolache) durch Bukarest. Wenn sie nicht gerade Unfall­über­le­ben­de aus dem Werk besucht, um sie für einen Inter­viewauf­tritt im Video zu casten, besich­tigt die übel­lau­ni­ge Medi­en­ar­bei­te­rin ein Nobel­lo­kal für die Abend­un­ter­hal­tung der für den Dreh erwar­te­ten Dele­ga­ti­on aus „Austria“. Dazwi­schen fährt Angela Uber-Touren und postet Social-Media-Videos, in denen sie monströse Mas­ku­li­nis­mus-Influ­en­cer wie Andrew Tate Andrew Tate[1], dessen Gesicht sie über ihr eigenes filtert, absurd überbietet.

    Dem Fil­me­ma­cher Radu Jude, einer der begna­dets­ten Ner­ven­sä­gen des Gegen­warts­ki­nos, ist mit „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ eine Komödie gelungen, die die Ent­gren­zung der Gig Economy nicht bloß erzählt, sondern in ihrer ruppig-sprung­haf­ten Form schlüssig spürbar macht: ein dere­gu­lier­ter Arbeits­all­tag als galliger Stream-of-Sprech­durch­fall, dem das Autoradio tages­ak­tu­el­les Material für Tiraden und Kalauer liefert (merke: King Charles ist wegen eines rumä­ni­schen Anwesens quasi Lokal­pro­mi­nenz), während pene­tran­te Beats die Dau­er­ar­bei­te­rin Angela vor dem Sekun­den­schlaf im Verkehr bewahren sollen. Auf der Bildebene reibt sich dazu körniges 16mm- dazu hart an TikTok-Filtern. In einer Pause rauscht Angela noch schnell zum Friedhof, wo das Grab des Vaters verlegt wird , bevor die Bagger kommen für eine neue Invest­ment-Immobilie. Der Ausweg Richtung Ostalgie wird derweilen verstellt durch Archiv-Aus­schnit­te eines Buka­res­ter Taxi­fah­re­rin­nen­dra­mas von 1981, das neben real­so­zia­lis­ti­schen Erbau­ungs­bot­schaf­ten reichlich Sei­ten­bli­cke auf Man­gel­wirt­schaft und machoide Ver­hal­tens­rou­ti­nen freigibt.

    Die über zwei­ein­halb Stunden nicht nach­las­sen­de Mit­tei­lungs­wut von Fil­me­ma­cher und Prot­ago­nis­tin hat ihr Anstren­gen­des. (Wer alle zwei Slavoj-Žižek-Zitate im Film findet, die im Abspann aus­ge­wie­sen sind: bitte nicht bei mir melden.) Aber Neun­mal­klug­heit und auf­ge­kratz­te schlechte Laune genügen sich hier nicht selbst, sondern wollen etwas. Wie die tanzenden Punkte in Angelas Auto, die von ihrem Dis­co­ku­gel-Glit­zer­kleid ausgehen, kris­tal­li­siert sich all das ver­sam­mel­te Material schlüssig um einige zornige, sehr konkrete Beob­ach­tun­gen zum aktuellen Ver­hält­nis von Arbeit und Bildproduktion.

    Zwei davon seien hier kurz erwähnt: Erstens stellt die Erzählung von Angelas qualvoll endlosem Tag mit der Unfall­ge­fahr über­mü­de­ter Crew­mit­glie­der ein lang und heftig dis­ku­tier­tes Thema der Arbeits­si­cher­heit in der Film­in­dus­trie ins Schein­wer­fer­licht. Jude selbst bezieht sich in Inter­views (zum Beispiel hier) auf den rezenten Ver­kehrs­to­des­fall eines vom Dreh erschöpf­ten rumä­ni­schen Film­ar­bei­ters als Inspi­ra­ti­on für den Film. Ähnliche Fälle lebens­ge­fähr­li­cher Über­mü­dung durch lange Drehtage sind in den USA – schon lange vor rezenten #metoo und den letzt­jäh­ri­gen Streiks von US-Gewerk­schaf­ten – häufig und bekannt genug, dass etwa der legendäre Kame­ra­mann Haskell Wexler („The Con­ver­sa­ti­on“, „One Flew Over the Cuckoo’s Nest“) bereits 2006 einen Doku­men­tar­film zum Thema drehte. Ein auf­schluss­rei­cher Bericht zum Thema von 2018 findet sich hier. Für das Gene­ral­the­ma des Films – eine Dere­gu­lie­rung von Arbeit, die neue Aus­beu­tungs­for­men als Auto­no­mie­ge­winn zu bewerben versucht – sind derartige Vorfälle ein dankbares Beispiel, weil sie (im Gegensatz zu Set-Unfällen) in der Regel nicht in die Haf­tungs­ver­ant­wor­tung der Film­pro­duk­ti­ons­fir­men fallen.

    Auf Ähnliches möchte auch – zweitens – die Satire um das Video hinaus, das für die öster­rei­chi­sche Firma gedreht werden soll: Die Werbung für Sicher­heits­maß­nah­men soll die Ver­ant­wor­tung für ver­gan­ge­ne Arbeits­un­fäl­le ganz auf die Seite der Arbeiter*innen abwälzen. Diese Dreis­tig­keit treibt Jude in einer abschlie­ßen­den über halb­stün­di­gen Sequenz auf die Spitze, die in wenigen sta­ti­schen Ein­stel­lun­gen den Videodreh zeigt. Von hinter der Kamera reden Regie und ange­reis­te Fir­men­ver­tre­te­rin (Nina Hoss) auf den im Rollstuhl sitzenden Ovidiu (Ovidiu Pîrsan) ein, seinen Erleb­nis­be­richt den Erfor­der­nis­sen der Unter­neh­mens-PR anzu­pas­sen: Bitte keine Lie­fe­run­gen nach Russland erwähnen, und schon gar keine kos­ten­spa­ren­den Sicher­heits­ri­si­ken der Firma, während im Bild­hin­ter­grund die bau­fäl­li­ge Werks­schran­ke auseinanderfällt.

    Diese Plan­se­quenz passt ins Bild eines rumä­ni­schen Kunst­ki­nos der letzten zwei Jahr­zehn­te, das seit Durch­bruchs­er­fol­gen von Cristi Puiu („Der Tod des Herrn Lazarescu“, 2005) und Corneliu Porumboiu („12:08 – Jenseits von Bukarest“, 2006) mit kon­zep­tu­ell ambi­tio­nier­tem, elastisch gespiel­tem Radi­kal­rea­lis­mus auffällt. Der Schluss­akt von „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ spielt aber darüber hinaus auf eine noch ältere Linie im rumä­ni­schen Kino an, die von päd­ago­gi­scher Film­pro­duk­ti­on als Macht­de­mons­tra­ti­on handelt: Nach einem auf­se­hen­er­re­gen­den Bankraub in Bukarest 1959 zwang die Secu­ri­ta­te die sechs Ver­ur­teil­ten, ihre mut­maß­li­chen Vergehen in einem aufwändig pro­du­zier­ten Infor­ma­ti­ons­film namens „Recon­sti­tui­rea“ (1960) nach­zu­stel­len. (Noch im Jahr der Film­pro­duk­ti­on wurden fünf der Ver­ur­teil­ten hin­ge­rich­tet. Wikipedia ist in diesem Fall ein guter Aus­gangs­punkt für weitere Recher­chen.) Diesen Fall nahm acht Jahre später Lucian Pintilie, einer der zentralen Kino­mo­der­nis­ten Rumäniens, zum Aus­gangs­punkt für eine bittere Satire, die denselben Titel trägt: „Recon­sti­tui­rea“ (1968) handelt von zwei Jugend­li­chen, die von der Ord­nungs­macht gezwungen werden, eine Schlä­ge­rei, für die sie ver­ur­teilt wurden, für einen Auf­klä­rungs­film über Gewalt nach­zu­stel­len. Pintilies Film erregte inter­na­tio­na­les Aufsehen und wurde von der rumä­ni­schen Kul­tur­be­hör­de verboten.

    Es fällt schwer, nicht ein Update dieses Szenarios öffent­li­cher Unter­wer­fung zu erkennen, wenn in Judes Film ein Mann für ein kleines Honorar vor laufender Kamera den Anspruch aufgibt, seinen Arbeit­ge­ber wegen unter­las­se­ner Sicher­heits­maß­nah­men zu verklagen.

    Joachim Schätz, Film­wis­sen­schaft­ler, ist Uni­ver­si­täts­as­sis­tent am Institut für Theater‑, Film‑, und Medi­en­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Wien. Er hat 2019–2023 das Projekt „Praktiken des Lehr- und Unter­richts­films in Öster­reich“ geleitet. Ergeb­nis­se unter https://www.lehrfilmpraktiken.at

    Refe­ren­zen:
    Busch, Anita: Hollywood’s Grueling Hours & Drowsy-Driving Problem: Crew Members Speak Out Despite Threat To Careers, in: Deadline, 1.2.2018.
    Ebbrecht-Hartmann, Tobias: „Rekon­struk­ti­on, oder: Dokument-Werden“, in: Daniela Hahn (Hg.): Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn: Fink 2016, 243–257.
    Goi, Leonardo: „Rules Stop Me from Daring”: Radu Jude on Do Not Expect Too Much from the End of the World”, in: Filmmaker Magazine, 10.8.2023.
    Leu, Dora/Öykü Sofuoğlu: An Enfant Terrible in Terrible Times: Radu Jude Discusses “Do Not Expect Too Much From the End of the World”, in: MUBI, 17.10.2023.

    [1] Der ame­ri­ka­nisch-britische Social-Media-Unter­neh­mer und Kickboxer Tate brachte es mit seinen für frau­en­feind­li­chen Aussagen berühmten Postings zu Online-Ruhm und bis zu sieben Millionen Followern auf Twitter. Seit 2017 in Rumänien wohnhaft, wurde er erst im Juni 2023 – bereits nach Drehende des Films –  wegen Ver­ge­wal­ti­gung, Men­schen­han­dels und der Bildung einer kri­mi­nel­len Orga­ni­sa­ti­on angeklagt.

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“, 2023, RO/LU/FR/HR, Radu Jude, Trailer 

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt, 2023, Radu Jude, Filmstill

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt, 2023, Radu Jude, Filmstill

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt, 2023, Radu Jude, Filmstill

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt, 2023, Radu Jude, Filmstill

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    Der Schmäh mit der Eigenverantwortung

    Joachim Schätz

    Die schöne, zornige Gig Economy-Komödie „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ (2023, Radu Jude) muss in Bukarest nicht lang nach Ausbeutungsverhältnissen suchen, sondern findet sie bereits unterwegs im Auto einer Produktionsassistentin.

    Hilfe, die Öster­rei­cher kommen! Weil ein öster­rei­chi­sches Unter­neh­men für seine rumä­ni­sche Fabrik ein Arbeits­si­cher­heits-Video in Auftrag gegeben hat, rast Pro­duk­ti­ons­as­sis­ten­tin Angela (Ilinca Manolache) durch Bukarest. Wenn sie nicht gerade Unfall­über­le­ben­de aus dem Werk besucht, um sie für einen Inter­viewauf­tritt im Video zu casten, besich­tigt die übel­lau­ni­ge Medi­en­ar­bei­te­rin ein Nobel­lo­kal für die Abend­un­ter­hal­tung der für den Dreh erwar­te­ten Dele­ga­ti­on aus „Austria“. Dazwi­schen fährt Angela Uber-Touren und postet Social-Media-Videos, in denen sie monströse Mas­ku­li­nis­mus-Influ­en­cer wie Andrew Tate Andrew Tate[1], dessen Gesicht sie über ihr eigenes filtert, absurd überbietet.

    Dem Fil­me­ma­cher Radu Jude, einer der begna­dets­ten Ner­ven­sä­gen des Gegen­warts­ki­nos, ist mit „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ eine Komödie gelungen, die die Ent­gren­zung der Gig Economy nicht bloß erzählt, sondern in ihrer ruppig-sprung­haf­ten Form schlüssig spürbar macht: ein dere­gu­lier­ter Arbeits­all­tag als galliger Stream-of-Sprech­durch­fall, dem das Autoradio tages­ak­tu­el­les Material für Tiraden und Kalauer liefert (merke: King Charles ist wegen eines rumä­ni­schen Anwesens quasi Lokal­pro­mi­nenz), während pene­tran­te Beats die Dau­er­ar­bei­te­rin Angela vor dem Sekun­den­schlaf im Verkehr bewahren sollen. Auf der Bildebene reibt sich dazu körniges 16mm- dazu hart an TikTok-Filtern. In einer Pause rauscht Angela noch schnell zum Friedhof, wo das Grab des Vaters verlegt wird , bevor die Bagger kommen für eine neue Invest­ment-Immobilie. Der Ausweg Richtung Ostalgie wird derweilen verstellt durch Archiv-Aus­schnit­te eines Buka­res­ter Taxi­fah­re­rin­nen­dra­mas von 1981, das neben real­so­zia­lis­ti­schen Erbau­ungs­bot­schaf­ten reichlich Sei­ten­bli­cke auf Man­gel­wirt­schaft und machoide Ver­hal­tens­rou­ti­nen freigibt.

    Die über zwei­ein­halb Stunden nicht nach­las­sen­de Mit­tei­lungs­wut von Fil­me­ma­cher und Prot­ago­nis­tin hat ihr Anstren­gen­des. (Wer alle zwei Slavoj-Žižek-Zitate im Film findet, die im Abspann aus­ge­wie­sen sind: bitte nicht bei mir melden.) Aber Neun­mal­klug­heit und auf­ge­kratz­te schlechte Laune genügen sich hier nicht selbst, sondern wollen etwas. Wie die tanzenden Punkte in Angelas Auto, die von ihrem Dis­co­ku­gel-Glit­zer­kleid ausgehen, kris­tal­li­siert sich all das ver­sam­mel­te Material schlüssig um einige zornige, sehr konkrete Beob­ach­tun­gen zum aktuellen Ver­hält­nis von Arbeit und Bildproduktion.

    Zwei davon seien hier kurz erwähnt: Erstens stellt die Erzählung von Angelas qualvoll endlosem Tag mit der Unfall­ge­fahr über­mü­de­ter Crew­mit­glie­der ein lang und heftig dis­ku­tier­tes Thema der Arbeits­si­cher­heit in der Film­in­dus­trie ins Schein­wer­fer­licht. Jude selbst bezieht sich in Inter­views (zum Beispiel hier) auf den rezenten Ver­kehrs­to­des­fall eines vom Dreh erschöpf­ten rumä­ni­schen Film­ar­bei­ters als Inspi­ra­ti­on für den Film. Ähnliche Fälle lebens­ge­fähr­li­cher Über­mü­dung durch lange Drehtage sind in den USA – schon lange vor rezenten #metoo und den letzt­jäh­ri­gen Streiks von US-Gewerk­schaf­ten – häufig und bekannt genug, dass etwa der legendäre Kame­ra­mann Haskell Wexler („The Con­ver­sa­ti­on“, „One Flew Over the Cuckoo’s Nest“) bereits 2006 einen Doku­men­tar­film zum Thema drehte. Ein auf­schluss­rei­cher Bericht zum Thema von 2018 findet sich hier. Für das Gene­ral­the­ma des Films – eine Dere­gu­lie­rung von Arbeit, die neue Aus­beu­tungs­for­men als Auto­no­mie­ge­winn zu bewerben versucht – sind derartige Vorfälle ein dankbares Beispiel, weil sie (im Gegensatz zu Set-Unfällen) in der Regel nicht in die Haf­tungs­ver­ant­wor­tung der Film­pro­duk­ti­ons­fir­men fallen.

    Auf Ähnliches möchte auch – zweitens – die Satire um das Video hinaus, das für die öster­rei­chi­sche Firma gedreht werden soll: Die Werbung für Sicher­heits­maß­nah­men soll die Ver­ant­wor­tung für ver­gan­ge­ne Arbeits­un­fäl­le ganz auf die Seite der Arbeiter*innen abwälzen. Diese Dreis­tig­keit treibt Jude in einer abschlie­ßen­den über halb­stün­di­gen Sequenz auf die Spitze, die in wenigen sta­ti­schen Ein­stel­lun­gen den Videodreh zeigt. Von hinter der Kamera reden Regie und ange­reis­te Fir­men­ver­tre­te­rin (Nina Hoss) auf den im Rollstuhl sitzenden Ovidiu (Ovidiu Pîrsan) ein, seinen Erleb­nis­be­richt den Erfor­der­nis­sen der Unter­neh­mens-PR anzu­pas­sen: Bitte keine Lie­fe­run­gen nach Russland erwähnen, und schon gar keine kos­ten­spa­ren­den Sicher­heits­ri­si­ken der Firma, während im Bild­hin­ter­grund die bau­fäl­li­ge Werks­schran­ke auseinanderfällt.

    Diese Plan­se­quenz passt ins Bild eines rumä­ni­schen Kunst­ki­nos der letzten zwei Jahr­zehn­te, das seit Durch­bruchs­er­fol­gen von Cristi Puiu („Der Tod des Herrn Lazarescu“, 2005) und Corneliu Porumboiu („12:08 – Jenseits von Bukarest“, 2006) mit kon­zep­tu­ell ambi­tio­nier­tem, elastisch gespiel­tem Radi­kal­rea­lis­mus auffällt. Der Schluss­akt von „Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“ spielt aber darüber hinaus auf eine noch ältere Linie im rumä­ni­schen Kino an, die von päd­ago­gi­scher Film­pro­duk­ti­on als Macht­de­mons­tra­ti­on handelt: Nach einem auf­se­hen­er­re­gen­den Bankraub in Bukarest 1959 zwang die Secu­ri­ta­te die sechs Ver­ur­teil­ten, ihre mut­maß­li­chen Vergehen in einem aufwändig pro­du­zier­ten Infor­ma­ti­ons­film namens „Recon­sti­tui­rea“ (1960) nach­zu­stel­len. (Noch im Jahr der Film­pro­duk­ti­on wurden fünf der Ver­ur­teil­ten hin­ge­rich­tet. Wikipedia ist in diesem Fall ein guter Aus­gangs­punkt für weitere Recher­chen.) Diesen Fall nahm acht Jahre später Lucian Pintilie, einer der zentralen Kino­mo­der­nis­ten Rumäniens, zum Aus­gangs­punkt für eine bittere Satire, die denselben Titel trägt: „Recon­sti­tui­rea“ (1968) handelt von zwei Jugend­li­chen, die von der Ord­nungs­macht gezwungen werden, eine Schlä­ge­rei, für die sie ver­ur­teilt wurden, für einen Auf­klä­rungs­film über Gewalt nach­zu­stel­len. Pintilies Film erregte inter­na­tio­na­les Aufsehen und wurde von der rumä­ni­schen Kul­tur­be­hör­de verboten.

    Es fällt schwer, nicht ein Update dieses Szenarios öffent­li­cher Unter­wer­fung zu erkennen, wenn in Judes Film ein Mann für ein kleines Honorar vor laufender Kamera den Anspruch aufgibt, seinen Arbeit­ge­ber wegen unter­las­se­ner Sicher­heits­maß­nah­men zu verklagen.

    Joachim Schätz, Film­wis­sen­schaft­ler, ist Uni­ver­si­täts­as­sis­tent am Institut für Theater‑, Film‑, und Medi­en­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Wien. Er hat 2019–2023 das Projekt „Praktiken des Lehr- und Unter­richts­films in Öster­reich“ geleitet. Ergeb­nis­se unter https://www.lehrfilmpraktiken.at

    Refe­ren­zen:
    Busch, Anita: Hollywood’s Grueling Hours & Drowsy-Driving Problem: Crew Members Speak Out Despite Threat To Careers, in: Deadline, 1.2.2018.
    Ebbrecht-Hartmann, Tobias: „Rekon­struk­ti­on, oder: Dokument-Werden“, in: Daniela Hahn (Hg.): Beyond Evidence. Das Dokument in den Künsten, Paderborn: Fink 2016, 243–257.
    Goi, Leonardo: „Rules Stop Me from Daring”: Radu Jude on Do Not Expect Too Much from the End of the World”, in: Filmmaker Magazine, 10.8.2023.
    Leu, Dora/Öykü Sofuoğlu: An Enfant Terrible in Terrible Times: Radu Jude Discusses “Do Not Expect Too Much From the End of the World”, in: MUBI, 17.10.2023.

    [1] Der ame­ri­ka­nisch-britische Social-Media-Unter­neh­mer und Kickboxer Tate brachte es mit seinen für frau­en­feind­li­chen Aussagen berühmten Postings zu Online-Ruhm und bis zu sieben Millionen Followern auf Twitter. Seit 2017 in Rumänien wohnhaft, wurde er erst im Juni 2023 – bereits nach Drehende des Films –  wegen Ver­ge­wal­ti­gung, Men­schen­han­dels und der Bildung einer kri­mi­nel­len Orga­ni­sa­ti­on angeklagt.

    Erwarte nicht zu viel vom Ende der Welt“, 2023, RO/LU/FR/HR, Radu Jude, Trailer

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    Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes ver­an­schau­licht dieser Blog buch­stäb­lich das weite Feld der Arbeit, Beschäf­ti­gung und Bildung in einer offenen Sammlung aka­de­mi­scher, künst­le­ri­scher und auch anek­do­ti­scher Erkenntnisse.

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    Konrad Wakol­bin­ger dreht Doku­men­tar­fil­me über Arbeit und Leben. Jörg Mar­ko­witsch forscht zu Bildung und Arbeit.  Beide leben in Wien. Infor­ma­tio­nen zu Gast­au­toren und ‑autorin­nen finden sich bei ihren jewei­li­gen Beiträgen

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