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  • Plädoyer für auto­chtho­ne Bildungssysteme


    Jörg Markowitsch

    "In my blood it runs" (2019) ist ein intimes Porträt eines Aborigine-Jungen und seiner Familie sowie Zeugnis der eklatanten Mängel des australischen Bildungssystems im Umgang mit der indigenen Bevölkerung Australiens.

    Der jüngste Film von Maya Newell, gesehen beim heuer erstmals online abge­hal­te­nen Festival ‚This Human World’, über­steigt den Anspruch, den ein Film gewöhn­lich an sich stellt. Er ist Teil einer umfas­sen­den Kampagne für die Ver­bes­se­rung der Bil­dungs­chan­cen aus­tra­li­scher Urein­woh­ner, die einen ersten Höhepunkt in der kurzen Rede des Stars des Films, des 12-jährige Dujuan, vor dem UN-Men­schen­rechts­rat in Genf hatte.

    Begleitet von seinem Vater fordert der mit sym­pa­thi­scher Lese­schwä­che aus­ge­stat­tet Dujuan, als angeblich jüngste Redner in der Geschich­te des Rates, dass die aus­tra­li­sche Regierung aufhören müsse, 10-Jährige ins Gefängnis zu stecken und zu miss­han­deln, und dass Abori­gi­nes ihre eigenen Schulen brauchen.

    Damit ist eigent­lich auch die Mission des Films beschrie­ben, aber noch nichts über den Film selbst gesagt. Der doku­men­ta­ri­sche Spielfilm schildert aus der Per­spek­ti­ve des damals 10 Jahre alten Dujuan den Schul- und Fami­li­en­all­tag in Alice Springs und the­ma­ti­siert dabei die Dis­kre­panz zwischen den Werten und Vor­stel­lun­gen der staat­li­chen Schul­bil­dung und der tra­di­tio­nel­len Arrernte-Erziehung (Die Arrernte sind ein Stamm der Abori­gi­nes in Zentral-Aus­tra­li­en, die in und rund um Alice Springs leben). Immer wieder ein­ge­floch­ten wird die grausame Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik des vorigen Jahr­hun­derts sowie ein aktueller Miss­hand­lungs­skan­dal im Jugend­straff­voll­zug (Straf­mün­dig­keit beginnt in Aus­tra­li­en im Alter von 10 Jahren; 100 % der inhaf­tier­ten Kinder und Jugend­li­chen sind Aborigines).

    Pro­to­ty­pisch für den Film und dessen Thema ist jene Szene, in der die Klas­sen­leh­re­rin anhand eines illus­trier­ten Schul­buchs erklärt, dass die Geschich­te Aus­tra­li­ens mit der Ent­de­ckung des Kon­ti­nents durch Kapitän Cook begann und damit die 65000 Jahre Geschich­te der Abori­gi­nes schlicht ignoriert. Als Zuschauer ist man kurz fas­sungs­los und beginnt an der Glaub­wür­dig­keit der Doku­men­ta­ti­on zu zweifeln. Dujuan hingegen verliert nie die Fassung, bleibt stets reflektiv und kom­men­tiert das Unglaub­li­che lapidar mit: „Die Geschich­te, die wir in der Schule lernen, ist für Weiße“.

    Die tiefere Brisanz des Films liegt meines Erachtens in der Frage: Wie weit kann ein voll­kom­men anderes Bil­dungs­ver­ständ­nis in einer Mehr­heits­ge­sell­schaft überhaupt Platz finden? Wie weit bleibt, vor dem Hin­ter­grund einer globalen Hegemonie der Schlüs­sel­kom­pe­ten­zen, Raum für eine Bil­dungs­kon­zep­ti­on, die völlig andere basale Fer­tig­kei­ten bevorzugt? Nationale Bil­dungs­sys­te­me tendieren dazu, homo­ge­ni­sier­tes natio­na­les oder globales Wissen zu lehren und dabei indigene Kulturen als unwissend, veraltet oder rück­stän­dig dar­zu­stel­len (Smith, Tuck & Yang, 2019). Diese Grund­satz­pro­ble­ma­tik kann in Europa wohl ansatz­wei­se nur am Fall der Roma und Sinti nach­voll­zo­gen werden (siehe dazu auch den Doku­men­tar­film „Der zornige Buddha“ von Stefan Ludwig aus dem Jahr 2016). Die Forderung nach Unter­richt in der Sprache der Min­der­heit ist dabei ein wichtiger und offen­sicht­li­cher Aspekt, der auch im Film nicht zu kurz kommt. Wie weitere Elemente einer indigenen Grund­bil­dung aussehen könnten, bleibt aber offen.

    Der Film zeigt wie Dujuan Busch­me­di­zin sammelt oder wie er lernt einen Truck durch das Outback zu steuern, obwohl er kaum über das Arma­tu­ren­brett hin­aus­sieht. Das aber kann nicht der große Gegen­ent­wurf zum domi­nan­ten Bil­dungs­pa­ra­dig­ma sein, wenn­gleich ich seine Aufregung über dieses prägende Lern­er­leb­nis gut nach­voll­zie­hen kann. Denn viel älter war ich und mein Cousin als mein ‚Fahr­leh­rer’ beim ersten Fahr­ver­such mit dem Traktor meines Onkels wohl auch nicht.

    Der sym­bo­li­sche Schluss des Films deutet dann doch noch auf eine mögliche größere Dimension hin. Dujuan lernt das Buschland ziel­ge­rich­tet abzu­bren­nen. Damit imitieren und unter­stüt­zen die Abori­gi­nes den natür­li­chen Kreislauf der aus­tra­li­schen Natur. Der Film verweist dabei auf ein jahr­tau­sen­de­al­tes nicht-kodi­fi­zier­ba­res Wissen der Urein­woh­ner, das im Kampf gegen die zunehmend ver­hee­ren­de­ren Wald­brän­de in Aus­tra­li­en zum Einsatz kommen könnte (Bardsley, Prowse und Sieg­friedt, 2019).

    „In my blood it runs“ wurde in Zusam­men­ar­beit mit Arrernte-NGOs rea­li­siert. Von der Ent­ste­hung bis zur Ver­mark­tung, ist der Film ein Mus­ter­bei­spiel politisch enga­gier­ten Kinos – zur Deko­lo­nia­li­sie­rung von Bildung.

    Refe­ren­zen:
    https://inmyblooditruns.com/
    World Indi­ge­nous Peoples’ Con­fe­rence on Education (WIPCE)
    Smith, L. T., Tuck, E., & Yang, K. W. (2019). Indi­ge­nous and deco­lo­ni­zing studies in education: Mapping the long view. New York: Routledge.
    Bardsley, D. K., Prowse, T. A., & Sieg­friedt, C. (2019). Seeking knowledge of tra­di­tio­nal Indi­ge­nous burning practices to inform regional bushfire manage­ment. Local Envi­ron­ment, 24(8), 727–745.

     

    Dujuan’s kurze Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf 

    Maya Newell, In my blood it runs, 2019, Australien, Trailer 

    Dujuan mit dem Truck durch das Outback, In my blood it runs, 2019, Filmstill

    Dujuan in der Schule, In my blood it runs, 2019, Filmstill

    Dujuan mit seiner Mutter, In my blood it runs, 2019, Filmstill

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    Plädoyer für auto­chtho­ne Bildungssysteme

    Jörg Markowitsch

    "In my blood it runs" (2019) ist ein intimes Porträt eines Aborigine-Jungen und seiner Familie sowie Zeugnis der eklatanten Mängel des australischen Bildungssystems im Umgang mit der indigenen Bevölkerung Australiens.

    Der jüngste Film von Maya Newell, gesehen beim heuer erstmals online abge­hal­te­nen Festival ‚This Human World’, über­steigt den Anspruch, den ein Film gewöhn­lich an sich stellt. Er ist Teil einer umfas­sen­den Kampagne für die Ver­bes­se­rung der Bil­dungs­chan­cen aus­tra­li­scher Urein­woh­ner, die einen ersten Höhepunkt in der kurzen Rede des Stars des Films, des 12-jährige Dujuan, vor dem UN-Men­schen­rechts­rat in Genf hatte.

    Begleitet von seinem Vater fordert der mit sym­pa­thi­scher Lese­schwä­che aus­ge­stat­tet Dujuan, als angeblich jüngste Redner in der Geschich­te des Rates, dass die aus­tra­li­sche Regierung aufhören müsse, 10-Jährige ins Gefängnis zu stecken und zu miss­han­deln, und dass Abori­gi­nes ihre eigenen Schulen brauchen.

    Damit ist eigent­lich auch die Mission des Films beschrie­ben, aber noch nichts über den Film selbst gesagt. Der doku­men­ta­ri­sche Spielfilm schildert aus der Per­spek­ti­ve des damals 10 Jahre alten Dujuan den Schul- und Fami­li­en­all­tag in Alice Springs und the­ma­ti­siert dabei die Dis­kre­panz zwischen den Werten und Vor­stel­lun­gen der staat­li­chen Schul­bil­dung und der tra­di­tio­nel­len Arrernte-Erziehung (Die Arrernte sind ein Stamm der Abori­gi­nes in Zentral-Aus­tra­li­en, die in und rund um Alice Springs leben). Immer wieder ein­ge­floch­ten wird die grausame Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik des vorigen Jahr­hun­derts sowie ein aktueller Miss­hand­lungs­skan­dal im Jugend­straff­voll­zug (Straf­mün­dig­keit beginnt in Aus­tra­li­en im Alter von 10 Jahren; 100 % der inhaf­tier­ten Kinder und Jugend­li­chen sind Aborigines).

    Pro­to­ty­pisch für den Film und dessen Thema ist jene Szene, in der die Klas­sen­leh­re­rin anhand eines illus­trier­ten Schul­buchs erklärt, dass die Geschich­te Aus­tra­li­ens mit der Ent­de­ckung des Kon­ti­nents durch Kapitän Cook begann und damit die 65000 Jahre Geschich­te der Abori­gi­nes schlicht ignoriert. Als Zuschauer ist man kurz fas­sungs­los und beginnt an der Glaub­wür­dig­keit der Doku­men­ta­ti­on zu zweifeln. Dujuan hingegen verliert nie die Fassung, bleibt stets reflektiv und kom­men­tiert das Unglaub­li­che lapidar mit: „Die Geschich­te, die wir in der Schule lernen, ist für Weiße“.

    Die tiefere Brisanz des Films liegt meines Erachtens in der Frage: Wie weit kann ein voll­kom­men anderes Bil­dungs­ver­ständ­nis in einer Mehr­heits­ge­sell­schaft überhaupt Platz finden? Wie weit bleibt, vor dem Hin­ter­grund einer globalen Hegemonie der Schlüs­sel­kom­pe­ten­zen, Raum für eine Bil­dungs­kon­zep­ti­on, die völlig andere basale Fer­tig­kei­ten bevorzugt? Nationale Bil­dungs­sys­te­me tendieren dazu, homo­ge­ni­sier­tes natio­na­les oder globales Wissen zu lehren und dabei indigene Kulturen als unwissend, veraltet oder rück­stän­dig dar­zu­stel­len (Smith, Tuck & Yang, 2019). Diese Grund­satz­pro­ble­ma­tik kann in Europa wohl ansatz­wei­se nur am Fall der Roma und Sinti nach­voll­zo­gen werden (siehe dazu auch den Doku­men­tar­film „Der zornige Buddha“ von Stefan Ludwig aus dem Jahr 2016). Die Forderung nach Unter­richt in der Sprache der Min­der­heit ist dabei ein wichtiger und offen­sicht­li­cher Aspekt, der auch im Film nicht zu kurz kommt. Wie weitere Elemente einer indigenen Grund­bil­dung aussehen könnten, bleibt aber offen.

    Der Film zeigt wie Dujuan Busch­me­di­zin sammelt oder wie er lernt einen Truck durch das Outback zu steuern, obwohl er kaum über das Arma­tu­ren­brett hin­aus­sieht. Das aber kann nicht der große Gegen­ent­wurf zum domi­nan­ten Bil­dungs­pa­ra­dig­ma sein, wenn­gleich ich seine Aufregung über dieses prägende Lern­er­leb­nis gut nach­voll­zie­hen kann. Denn viel älter war ich und mein Cousin als mein ‚Fahr­leh­rer’ beim ersten Fahr­ver­such mit dem Traktor meines Onkels wohl auch nicht.

    Der sym­bo­li­sche Schluss des Films deutet dann doch noch auf eine mögliche größere Dimension hin. Dujuan lernt das Buschland ziel­ge­rich­tet abzu­bren­nen. Damit imitieren und unter­stüt­zen die Abori­gi­nes den natür­li­chen Kreislauf der aus­tra­li­schen Natur. Der Film verweist dabei auf ein jahr­tau­sen­de­al­tes nicht-kodi­fi­zier­ba­res Wissen der Urein­woh­ner, das im Kampf gegen die zunehmend ver­hee­ren­de­ren Wald­brän­de in Aus­tra­li­en zum Einsatz kommen könnte (Bardsley, Prowse und Sieg­friedt, 2019).

    „In my blood it runs“ wurde in Zusam­men­ar­beit mit Arrernte-NGOs rea­li­siert. Von der Ent­ste­hung bis zur Ver­mark­tung, ist der Film ein Mus­ter­bei­spiel politisch enga­gier­ten Kinos – zur Deko­lo­nia­li­sie­rung von Bildung.

    Refe­ren­zen:
    https://inmyblooditruns.com/
    World Indi­ge­nous Peoples’ Con­fe­rence on Education (WIPCE)
    Smith, L. T., Tuck, E., & Yang, K. W. (2019). Indi­ge­nous and deco­lo­ni­zing studies in education: Mapping the long view. New York: Routledge.
    Bardsley, D. K., Prowse, T. A., & Sieg­friedt, C. (2019). Seeking knowledge of tra­di­tio­nal Indi­ge­nous burning practices to inform regional bushfire manage­ment. Local Envi­ron­ment, 24(8), 727–745.

     

    Dujuan’s kurze Rede vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf

    Maya Newell, In my blood it runs, 2019, Australien, Trailer

    Dujuan mit dem Truck durch das Outback, In my blood it runs, 2019, Filmstill

    Dujuan in der Schule, In my blood it runs, 2019, Filmstill

    Dujuan mit seiner Mutter, In my blood it runs, 2019, Filmstill

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