(Un-)verantwortliche Arbeit – für uns
Der Filmtopos und die zugehörige Filmszene sind bekannt: Der/die Protagonist:in bekommt die Diagnose „Krebs“ und die erschütternde Nachricht, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hat. Rodney Williams, brillant gespielt von Bill Nighy, wird damit im Film „Living“ (UK, 2022, Regie: Oliver Hermanus, Drehbuch: Kazuo Ishiguro) konfrontiert. Wenig überraschend sucht er zunächst das Glück seiner letzten Stunden mit Spiel, Alkohol und Frauen zu finden. Allerdings bleibt dieses Vorgehen erfolglos und unbefriedigend für ihn.
Lange sucht er erfolglos nach dem tieferen Sinn des Lebens, bevor er diesen schließlich in der Arbeit und in der Hilfe für andere findet. Beschäftigt in der Bauabteilung der Londoner Stadtverwaltung setzt er durch persönlichen Einsatz und Fürsprache in anderen Abteilungen der Verwaltung Himmel und Hölle in Bewegung, damit eine Nachbarschaftsinitiative einen Spielplatz für Kinder bauen kann. Er wandelt sich von einem Beschäftigten, der nur Dienst nach Vorschrift macht, zu einem Menschen, der Verantwortung übernimmt und auch gegen Widerstände etwas positiv bewegen will. Köstlich die Szene, wo betont wird, dass die Höhe des Bergs an unerledigter Arbeit als heimliches Arbeitsziel gilt, um die eigene Bedeutung symbolisch zu markieren.
Kurz nach der Filmmitte verstirbt Williams bereits und der Rest des Films erzählen über sein Wirken in den letzten Tagen sowie welche positiven Wirkungen sein Tun auf seine Mitmenschen hatte. Wer aber nun denkt, dass es hier schnulzig wird und sich alles zu einem seichten Happyend auflöst, wird mit einem unerwarteten Twist in der Storyline herb enttäuscht. Mindestens zwei Szenen bergen dann Überraschungen. Große Reden werden von seinem Nachfolger im Kollegenkreis geschwungen. Man solle im Andenken an den Verstorbenen schwören, nun wie er zu handeln. Aber das tatsächliche Tun fällt dann von dem Nachfolger anders aus. Er fällt in die Routine eines Abschiebens von Verantwortung zurück. Ein junger Mitarbeiter — eigentlich inspiriert und gefördert von Williams — scheitert kläglich darin, selbst Verantwortung zu übernehmen. Er traut sich — ohne größeres persönliches Risiko — nicht einmal die Stimme zu erheben, um gegen die Untätigkeit in der Bürokratie zu protestieren.
Der Film irritiert seine Zuschauenden mit der schonungslosen Erkenntnis wieviel leichter es ist, keine Verantwortung für die und in der eigenen Arbeit zu übernehmen. Auch gute Vorbilder wirken oft nicht dauerhaft und es ist schwierig, Verantwortung nachhaltig und strukturell zu verankern.
In unserer stark vernetzten Arbeitswelt, wo wir oft in Teams arbeiten müssen, ist es aus verschiedenen Gründen ein Leichtes, Verantwortung hin- und herzuschieben. In einer Arbeitswelt, die immer mehr von Algorithmen und KI mitbestimmt wird, kann man sich zudem hinter der Technik verstecken [1]. CEOs haben schon dubiose Geschäftspraktiken mit angeblich nicht beeinflussbaren Algorithmen zu legitimieren gesucht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies zunehmen wird, da man nun Verantwortung nicht nur auf Mitarbeitende, sondern nun auch noch auf die KI und Algorithmen abschieben kann.
Der Film „Living“ vermag Zuseher:innen skeptisch stimmen, ob wir in Gegenwart und Zukunft besser mit Verantwortung umgehen werden. Er behält trotz aller Skepsis aber letztlich doch auch eine positive Botschaft parat. Dem Filmhelden bescherte sein Tun ein glückliches und erfülltes Lebensende. Wir sollten Verantwortung nicht allein deswegen übernehmen, um anderen zu helfen, sondern wir helfen uns in einer Art egoistischen Altruismus selbst, wenn wir Mut zeigen statt an Routinen zu kleben.
Bernd Käpplinger ist Professor für Weiterbildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Handelsblatt (28.12.2017). “Solche Algorithmen werden ja nicht von Gott geschrieben”
Living, UK, 2022, Oliver Hermanus
Bill Nighy, Kazuo Ishiguro & Oliver Hermanus on "Living", Film4
Bill Nighty, Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Bill Nighty, Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Living, UK, 2022, Filmset
© Sony Pictures
(Un-)verantwortliche Arbeit – für uns
Der Filmtopos und die zugehörige Filmszene sind bekannt: Der/die Protagonist:in bekommt die Diagnose „Krebs“ und die erschütternde Nachricht, dass sie nur noch wenige Monate zu leben hat. Rodney Williams, brillant gespielt von Bill Nighy, wird damit im Film „Living“ (UK, 2022, Regie: Oliver Hermanus, Drehbuch: Kazuo Ishiguro) konfrontiert. Wenig überraschend sucht er zunächst das Glück seiner letzten Stunden mit Spiel, Alkohol und Frauen zu finden. Allerdings bleibt dieses Vorgehen erfolglos und unbefriedigend für ihn.
Lange sucht er erfolglos nach dem tieferen Sinn des Lebens, bevor er diesen schließlich in der Arbeit und in der Hilfe für andere findet. Beschäftigt in der Bauabteilung der Londoner Stadtverwaltung setzt er durch persönlichen Einsatz und Fürsprache in anderen Abteilungen der Verwaltung Himmel und Hölle in Bewegung, damit eine Nachbarschaftsinitiative einen Spielplatz für Kinder bauen kann. Er wandelt sich von einem Beschäftigten, der nur Dienst nach Vorschrift macht, zu einem Menschen, der Verantwortung übernimmt und auch gegen Widerstände etwas positiv bewegen will. Köstlich die Szene, wo betont wird, dass die Höhe des Bergs an unerledigter Arbeit als heimliches Arbeitsziel gilt, um die eigene Bedeutung symbolisch zu markieren.
Kurz nach der Filmmitte verstirbt Williams bereits und der Rest des Films erzählen über sein Wirken in den letzten Tagen sowie welche positiven Wirkungen sein Tun auf seine Mitmenschen hatte. Wer aber nun denkt, dass es hier schnulzig wird und sich alles zu einem seichten Happyend auflöst, wird mit einem unerwarteten Twist in der Storyline herb enttäuscht. Mindestens zwei Szenen bergen dann Überraschungen. Große Reden werden von seinem Nachfolger im Kollegenkreis geschwungen. Man solle im Andenken an den Verstorbenen schwören, nun wie er zu handeln. Aber das tatsächliche Tun fällt dann von dem Nachfolger anders aus. Er fällt in die Routine eines Abschiebens von Verantwortung zurück. Ein junger Mitarbeiter — eigentlich inspiriert und gefördert von Williams — scheitert kläglich darin, selbst Verantwortung zu übernehmen. Er traut sich — ohne größeres persönliches Risiko — nicht einmal die Stimme zu erheben, um gegen die Untätigkeit in der Bürokratie zu protestieren.
Der Film irritiert seine Zuschauenden mit der schonungslosen Erkenntnis wieviel leichter es ist, keine Verantwortung für die und in der eigenen Arbeit zu übernehmen. Auch gute Vorbilder wirken oft nicht dauerhaft und es ist schwierig, Verantwortung nachhaltig und strukturell zu verankern.
In unserer stark vernetzten Arbeitswelt, wo wir oft in Teams arbeiten müssen, ist es aus verschiedenen Gründen ein Leichtes, Verantwortung hin- und herzuschieben. In einer Arbeitswelt, die immer mehr von Algorithmen und KI mitbestimmt wird, kann man sich zudem hinter der Technik verstecken [1]. CEOs haben schon dubiose Geschäftspraktiken mit angeblich nicht beeinflussbaren Algorithmen zu legitimieren gesucht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies zunehmen wird, da man nun Verantwortung nicht nur auf Mitarbeitende, sondern nun auch noch auf die KI und Algorithmen abschieben kann.
Der Film „Living“ vermag Zuseher:innen skeptisch stimmen, ob wir in Gegenwart und Zukunft besser mit Verantwortung umgehen werden. Er behält trotz aller Skepsis aber letztlich doch auch eine positive Botschaft parat. Dem Filmhelden bescherte sein Tun ein glückliches und erfülltes Lebensende. Wir sollten Verantwortung nicht allein deswegen übernehmen, um anderen zu helfen, sondern wir helfen uns in einer Art egoistischen Altruismus selbst, wenn wir Mut zeigen statt an Routinen zu kleben.
Bernd Käpplinger ist Professor für Weiterbildung an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Handelsblatt (28.12.2017). “Solche Algorithmen werden ja nicht von Gott geschrieben”
Living, UK, 2022, Oliver Hermanus
Bill Nighy, Kazuo Ishiguro & Oliver Hermanus on "Living", Film4
Bill Nighty, Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Bill Nighty, Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Living, UK, 2022, Filmstill
© Sony Pictures
Living, UK, 2022, Filmset
© Sony Pictures
Ungeschönte Arbeitsrealitäten. Die Lehre als Konservenfacharbeiter
Die kritische Betrachtung historischer Berufsinformationsfilme vermag den Blick für große Veränderungen der Berufs- und Arbeitswelt zu schärfen. Warum es sich lohnt einen Schweizer Fernsehbeitrag zum Lehrberuf Konservenfacharbeiter aus den 1960ern genauer anzusehen.
Dystopien der Arbeitswelt
Katharina Gruzei’s Neuinterpretation des ersten Films der Filmgeschichte, „Arbeiter verlassen die Fabrik“ zeigt ein düsteres Bild der Arbeitswelt und gibt zu denken auf: Hat sich nach einem Jahrhundert die Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter gar verschlechtert? Auf welche Zukunft steuern wir zu?
Night Mail — Die Arbeit im Fokus
"Night Mail" (1936), vom britischen General Post Office als Imagefilm in Auftrag gegeben, ging als Dokumentarfilm in die Filmgeschichte ein. Die Regisseuren Harry Watt und Basil Wright schafften eine Ode an die Arbeiter und die moderne Technik indem sie ihren naturalistischen Blick mit poetischen Elementen und Menschlichkeit anreichern.
Night Mail – Der poetische Blick
Als der bedeutende Filmwissenschaftler Amos Vogel 1938 aus Wien in die USA fliehen musste, hatte der 17-jährige bereits die Entscheidung getroffen, sein Leben dem Film zu widmen. Das Erlebenis, das sein Zukunft bestimmen sollte, war das Screening von "Night Mail" (1936) und dieser Film weiss auch heute noch zu beeindrucken.
Bossnapping à la Cantona
Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Auseinandersetzungen zwischen Management und Arbeitnehmer:innen in Frankreich deutlich rauer. Das sogenannte "Bossnapping", die Geiselnahme der Geschäftsführung, virtuos von Éric Cantona in der Netflix-Serie 'Dérapages' in Szene gesetzt, liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel.
Ostfrauen. Selbstverwirklichung durch Erwerbsbeteiligung
«Du musst als Frau immer besser sein als der beste Mann im Team. Das ist für eine erfolgreiche Frau das Mindestmass wie das funktioniert im Patriarchat.» fasst Maria Gross, Köchin und Gastronomin aus Thüringen, die Situationen von «Ostfrauen» in der gleichnamigen MDR-Dokumentation von Lutz Pehnert zusammen.