Dystopien der Arbeitswelt
Der diesem Blog das Titelbild leihende Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“ der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895 gilt gemeinhin als ältester Film überhaupt. Die erste Kamera in der Geschichte des Films war auf das Tor der Fabrik der Miterfinder der Kinematografie in Lyon gerichtet, in dem Fotoplatten hergestellt wurden. In dem kaum eine Minute dauernden Film sieht man Arbeiter bzw. vor allem Arbeiterinnen aus dem Tor strömen. Wenngleich stilbildend für damalige und spätere Dokumentationen ist dieser Kurzfilm, der nur eine Einstellung kennt, doch inszeniert und damit auch erster Spielfilm.
Der Film hat nicht nur viele Nachahmer gefunden, er ist auch immer wieder von späteren Experimentalfilmern als Ausgangspunkt herangezogen worden. Genau 100 Jahre danach hat etwa Harun Farocki, gleichsam einer Hommage an die Geburtsstunde des Films, Varianten dieses Topos gesammelt und zu einem sehenswerten halbstündigen Essayfilm montiert („Arbeiter verlassen die Fabrik“, DE 1995). Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten hat eine neue Generation von Experimentalfilmemacher:innen Lumières Film als Inspiration für ihren Kommentar zum Zustand der heutigem Arbeitsgesellschaft genutzt. Was die meisten dieser Filme gemeinsam haben, ist ein bestimmter Stil, den Jennifer Peterson als “konzeptuellen Realismus” bezeichnet und der sich durch lange Einstellungen, unbewegliche Kameraführung, ein Engagement für die Beobachtung und den Verzicht auf redaktionelle Beiträge auszeichnet. Die meisten Filme verzichten gänzlich auf Dialog.
Ben Russells “Workers Leaving the Factory (Dubai)” (USA, 2008) zum Beispiel filmt Wanderarbeiter in einer einzigen Einstellung und mit unbewegter Kamera, die eine Megabaustelle in Dubai verlassen. Hier haben die Arbeiter definitiv nicht diese fröhliche Feierabendstimmung, die dem Original anhaftet. Aber wie im Original wird auch hier nichts erklärt und der Zuschauer ist gezwungen, eine Bedeutung in den Film zu projizieren. Eine Bedeutung, die in diesem Fall ziemlich offensichtlich ist: Der Film ist eine Anklage gegen Arbeitsmigration, Globalisierung und Kapitalismus.
Wie ich bei einem Vortrag im Rahmen der Konferenz “Images at Work: Labour and the Moving Image” am King’s College London kürzlich ausführen durfte, gibt es auch eine Art österreichische Tradition von „Arbeiter verlassen die Fabrik“-Remakes. Bereits 1984 nahm der international renommierte Avantgarde-Filmemacher Peter Tscherkassky das Filmmaterial selbst zum Ausgang eines neuen Films. In „Motion Picture“ montierte er fünfzig 16-mm-Streifen aus unbelichtetem Filmmaterial an die Wand und projizierte darauf ein Einzelbild aus dem Lumière-Film, wodurch ein neuer dreiminütiger Film entstand, der das Original mehr oder weniger in Lichtschattierung zerlegt. Es ist, als würde er den Code des Films bzw. Film in allgemeinen enthüllen wollen.
Für Fans des Avantgarde-Films ist das grandios, für Arbeitsforscher aber wenig hilfreich, da der Film damit meiner Meinung nach wenig bis gar nichts über Arbeit aussagt. Ähnlich verhält es such mit „In, Over & Out“ von Sebastian Brameshuber aus dem Jahr 2015. Der Drehort ist kein Fabriktor, sondern der Eingang einer renommierten französischen Kunstschule. Brameshuber filmt die herauskommenden Studierenden mit zwölf Kameras gleichzeitig, die alle ein anderes, veraltetes Format verwenden. Das Einzige, was ich als Arbeitsforscher daran interessant finde, ist die Tatsache, dass 120 Jahre nach Lumières die Klasse der Wissensarbeiter offensichtlich die Stelle der Arbeiterklasse eingenommen hat.
Einen Film, den ich hingegen sowohl aus künstlerischer Sicht als auch unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsforschung interessant finde, stammt von der Künstlerin Katharina Gruzei*. Mit „ArbeiterInnen verlassen die Fabrik“ (AT, 2012) hat Gruzei, die in Wien und Linz lebende, praktisch ein Prequel gedreht, dass in der Gegenwart angesiedelt ist und doch auch in der Zukunft spielen könnte.
Der 10-minütige Film hat zunächst scheinbar wenig mit dem Original zu tun. Die Kamera folgt von hinten einer Gruppe von dunklen Gestalten, die einen finsteren Gang entlang gehen, in dem, scheinbar unrhythmisch, Neonröhren an- und ausgehen. Das Gesamtbild ist düster. Parkhaus-Atmosphäre, nachts im tiefsten Untergeschoss. Zu dieser Arbeiterschaft will man nicht gehören. Jedenfalls ein krasser Gegensatz zum recht hellen Original, bei dem die Arbeiter beschwingt aus dem Fabrikstor tanzen und der Verdacht naheliegt, die Arbeiterinnen hätten ihre Sonntagskleider angelegt. Hat sich die Arbeitswelt zwischen 1895 und heute wirklich so zum schlechteren verändert? Immerhin schlug 1895 auch die Geburtsstunde der Confédération Générale du Travail (CGT) und somit die der modernen französischen Gewerkschaftsbewegung.
Gruzei’s Remake entwirft jedenfalls in wenigen Minuten ein dystopisches Bild einer Arbeitswelt und stellt damit Grundfragen über die Gegenwart und Zukunft der Arbeit auf: Was bedeutet Arbeit und Arbeiterschaft heute? Was hat sich tatsächlich verbessert?
Nach längerer Betrachtung zeigen sich dann doch die Parallelen zum Original. So sorgt etwa die Lichtinstallation im Film – ebenfalls von Gruzei — für ein Flackern, das auch dem Material des Originals inhärent ist. Und ganz am Ende wird letztlich doch die Originaleinstellung nachempfunden. Gruzeis Film kann damit wie ein Prequel zum Originalwerk gelesen werden. Endlich verlassen die ArbeiterInnen die Fabrik. Allein das Fabriktor ist diesmal ein Rollgitter, und es ist Nacht.
Hinweise:
*Der Vollständigkeit halber wäre auch „La sortie“ (AT 1998, 6min) von Siegfried A. Fruhauf zu erwähnen.
„Motion Picture“ und andere Filme von Peter Tscherkassky sind über MUBI zugänglich.
Referenzen:
Peterson, Jennifer (2013). Workers Leaving the Factory: Witnessing Industry in the Digital Age In. The Oxford Handbook of Sound and Image in Digital Media, edited by Carol Vernallis, Amy Herzog, and John Richardson.
Arbeiterinnen verlassen die Fabrik, Katharina Gruzei, Ausschnitt
Katharina Gruzei spricht über Ihren Film "Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik", 2min
"La sortie des usines Lumière", (Arbeiter verlassen die Fabrik), 1895
Workers Leaving the Factory (Dubai), Ben Russell, USA, 2008, 6 min
Katharina Gruzei, Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik Jahr, 2012, Österreich, Filmstill
© Sixpackfilm
Katharina Gruzei, Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik Jahr, 2012, Österreich, Filmstill
© Sixpackfilm
Motion Picture, Peter Tscherkassky, AT 1984, 3min.
© Peter Tscherkassky
In, Over & Out, Sebastian Brameshuberm AT/FR 2015, 10 min.
© Sixpackfilm
Dystopien der Arbeitswelt
Der diesem Blog das Titelbild leihende Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke“ der Brüder Lumière aus dem Jahr 1895 gilt gemeinhin als ältester Film überhaupt. Die erste Kamera in der Geschichte des Films war auf das Tor der Fabrik der Miterfinder der Kinematografie in Lyon gerichtet, in dem Fotoplatten hergestellt wurden. In dem kaum eine Minute dauernden Film sieht man Arbeiter bzw. vor allem Arbeiterinnen aus dem Tor strömen. Wenngleich stilbildend für damalige und spätere Dokumentationen ist dieser Kurzfilm, der nur eine Einstellung kennt, doch inszeniert und damit auch erster Spielfilm.
Der Film hat nicht nur viele Nachahmer gefunden, er ist auch immer wieder von späteren Experimentalfilmern als Ausgangspunkt herangezogen worden. Genau 100 Jahre danach hat etwa Harun Farocki, gleichsam einer Hommage an die Geburtsstunde des Films, Varianten dieses Topos gesammelt und zu einem sehenswerten halbstündigen Essayfilm montiert („Arbeiter verlassen die Fabrik“, DE 1995). Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten hat eine neue Generation von Experimentalfilmemacher:innen Lumières Film als Inspiration für ihren Kommentar zum Zustand der heutigem Arbeitsgesellschaft genutzt. Was die meisten dieser Filme gemeinsam haben, ist ein bestimmter Stil, den Jennifer Peterson als “konzeptuellen Realismus” bezeichnet und der sich durch lange Einstellungen, unbewegliche Kameraführung, ein Engagement für die Beobachtung und den Verzicht auf redaktionelle Beiträge auszeichnet. Die meisten Filme verzichten gänzlich auf Dialog.
Ben Russells “Workers Leaving the Factory (Dubai)” (USA, 2008) zum Beispiel filmt Wanderarbeiter in einer einzigen Einstellung und mit unbewegter Kamera, die eine Megabaustelle in Dubai verlassen. Hier haben die Arbeiter definitiv nicht diese fröhliche Feierabendstimmung, die dem Original anhaftet. Aber wie im Original wird auch hier nichts erklärt und der Zuschauer ist gezwungen, eine Bedeutung in den Film zu projizieren. Eine Bedeutung, die in diesem Fall ziemlich offensichtlich ist: Der Film ist eine Anklage gegen Arbeitsmigration, Globalisierung und Kapitalismus.
Wie ich bei einem Vortrag im Rahmen der Konferenz “Images at Work: Labour and the Moving Image” am King’s College London kürzlich ausführen durfte, gibt es auch eine Art österreichische Tradition von „Arbeiter verlassen die Fabrik“-Remakes. Bereits 1984 nahm der international renommierte Avantgarde-Filmemacher Peter Tscherkassky das Filmmaterial selbst zum Ausgang eines neuen Films. In „Motion Picture“ montierte er fünfzig 16-mm-Streifen aus unbelichtetem Filmmaterial an die Wand und projizierte darauf ein Einzelbild aus dem Lumière-Film, wodurch ein neuer dreiminütiger Film entstand, der das Original mehr oder weniger in Lichtschattierung zerlegt. Es ist, als würde er den Code des Films bzw. Film in allgemeinen enthüllen wollen.
Für Fans des Avantgarde-Films ist das grandios, für Arbeitsforscher aber wenig hilfreich, da der Film damit meiner Meinung nach wenig bis gar nichts über Arbeit aussagt. Ähnlich verhält es such mit „In, Over & Out“ von Sebastian Brameshuber aus dem Jahr 2015. Der Drehort ist kein Fabriktor, sondern der Eingang einer renommierten französischen Kunstschule. Brameshuber filmt die herauskommenden Studierenden mit zwölf Kameras gleichzeitig, die alle ein anderes, veraltetes Format verwenden. Das Einzige, was ich als Arbeitsforscher daran interessant finde, ist die Tatsache, dass 120 Jahre nach Lumières die Klasse der Wissensarbeiter offensichtlich die Stelle der Arbeiterklasse eingenommen hat.
Einen Film, den ich hingegen sowohl aus künstlerischer Sicht als auch unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsforschung interessant finde, stammt von der Künstlerin Katharina Gruzei*. Mit „ArbeiterInnen verlassen die Fabrik“ (AT, 2012) hat Gruzei, die in Wien und Linz lebende, praktisch ein Prequel gedreht, dass in der Gegenwart angesiedelt ist und doch auch in der Zukunft spielen könnte.
Der 10-minütige Film hat zunächst scheinbar wenig mit dem Original zu tun. Die Kamera folgt von hinten einer Gruppe von dunklen Gestalten, die einen finsteren Gang entlang gehen, in dem, scheinbar unrhythmisch, Neonröhren an- und ausgehen. Das Gesamtbild ist düster. Parkhaus-Atmosphäre, nachts im tiefsten Untergeschoss. Zu dieser Arbeiterschaft will man nicht gehören. Jedenfalls ein krasser Gegensatz zum recht hellen Original, bei dem die Arbeiter beschwingt aus dem Fabrikstor tanzen und der Verdacht naheliegt, die Arbeiterinnen hätten ihre Sonntagskleider angelegt. Hat sich die Arbeitswelt zwischen 1895 und heute wirklich so zum schlechteren verändert? Immerhin schlug 1895 auch die Geburtsstunde der Confédération Générale du Travail (CGT) und somit die der modernen französischen Gewerkschaftsbewegung.
Gruzei’s Remake entwirft jedenfalls in wenigen Minuten ein dystopisches Bild einer Arbeitswelt und stellt damit Grundfragen über die Gegenwart und Zukunft der Arbeit auf: Was bedeutet Arbeit und Arbeiterschaft heute? Was hat sich tatsächlich verbessert?
Nach längerer Betrachtung zeigen sich dann doch die Parallelen zum Original. So sorgt etwa die Lichtinstallation im Film – ebenfalls von Gruzei — für ein Flackern, das auch dem Material des Originals inhärent ist. Und ganz am Ende wird letztlich doch die Originaleinstellung nachempfunden. Gruzeis Film kann damit wie ein Prequel zum Originalwerk gelesen werden. Endlich verlassen die ArbeiterInnen die Fabrik. Allein das Fabriktor ist diesmal ein Rollgitter, und es ist Nacht.
Hinweise:
*Der Vollständigkeit halber wäre auch „La sortie“ (AT 1998, 6min) von Siegfried A. Fruhauf zu erwähnen.
„Motion Picture“ und andere Filme von Peter Tscherkassky sind über MUBI zugänglich.
Referenzen:
Peterson, Jennifer (2013). Workers Leaving the Factory: Witnessing Industry in the Digital Age In. The Oxford Handbook of Sound and Image in Digital Media, edited by Carol Vernallis, Amy Herzog, and John Richardson.
Arbeiterinnen verlassen die Fabrik, Katharina Gruzei, Ausschnitt
Katharina Gruzei spricht über Ihren Film "Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik", 2min
"La sortie des usines Lumière", (Arbeiter verlassen die Fabrik), 1895
Workers Leaving the Factory (Dubai), Ben Russell, USA, 2008, 6 min
Katharina Gruzei, Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik Jahr, 2012, Österreich, Filmstill
© Sixpackfilm
Katharina Gruzei, Die ArbeiterInnen verlassen die Fabrik Jahr, 2012, Österreich, Filmstill
© Sixpackfilm
Motion Picture, Peter Tscherkassky, AT 1984, 3min.
© Peter Tscherkassky
In, Over & Out, Sebastian Brameshuberm AT/FR 2015, 10 min.
© Sixpackfilm
Night Mail — Die Arbeit im Fokus
"Night Mail" (1936), vom britischen General Post Office als Imagefilm in Auftrag gegeben, ging als Dokumentarfilm in die Filmgeschichte ein. Die Regisseuren Harry Watt und Basil Wright schafften eine Ode an die Arbeiter und die moderne Technik indem sie ihren naturalistischen Blick mit poetischen Elementen und Menschlichkeit anreichern.
Night Mail – Der poetische Blick
Als der bedeutende Filmwissenschaftler Amos Vogel 1938 aus Wien in die USA fliehen musste, hatte der 17-jährige bereits die Entscheidung getroffen, sein Leben dem Film zu widmen. Das Erlebenis, das sein Zukunft bestimmen sollte, war das Screening von "Night Mail" (1936) und dieser Film weiss auch heute noch zu beeindrucken.
Bossnapping à la Cantona
Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Auseinandersetzungen zwischen Management und Arbeitnehmer:innen in Frankreich deutlich rauer. Das sogenannte "Bossnapping", die Geiselnahme der Geschäftsführung, virtuos von Éric Cantona in der Netflix-Serie 'Dérapages' in Szene gesetzt, liefert dafür ein bezeichnendes Beispiel.
Ostfrauen. Selbstverwirklichung durch Erwerbsbeteiligung
«Du musst als Frau immer besser sein als der beste Mann im Team. Das ist für eine erfolgreiche Frau das Mindestmass wie das funktioniert im Patriarchat.» fasst Maria Gross, Köchin und Gastronomin aus Thüringen, die Situationen von «Ostfrauen» in der gleichnamigen MDR-Dokumentation von Lutz Pehnert zusammen.
Zwischen Wirklichkeit und Werbung. Berufsinfofilme zur Krankenpflege im Wandel der Zeit
Die Bekämpfung des Pflegepersonalnotstands durch Film hat Geschichte. Ein W-o-W Filmabend thematisiert den Wandel des Pflegeberufs anhand von Berufsinformationsfilmen aus den letzten 80 Jahre.
“Zu jeder Zeit“, mit der Kamera Emotionen der Pflegeausbildung durchleuchten
Ein W-o-W Filmabend kontrastiert Berufsinformationsfilme mit dem einfühlsamen Dokumentarfilm „Zu jeder Zeit“ (FR 2018) von Nicolas Philibert zur Pflegausbildung im in einem Krankenhaus im Großraum Paris.