Gesellschaft ohne Anschluss
Im dritten und letzten Teil seiner vor rund 10 Jahren begonnenen Doku-Trilogie zu außergewöhnlichen Berufen führt uns Pavel Cuzuioc, der in Wien lebende und in Moldau geborene Filmemacher, einmal mehr in seine Herkunftsregion. Waren es im Debutfilm Totengräber, im letzten Film Garderobiers (siehe auch Beitrag Garderobiers der Weltbühnen) sind es im aktuellen Film nun Außendienstmitarbeiter von Telekomanbieter in Rumänien, Bulgarien, Moldau und der Ukraine.
Der bei der Viennale 2020 am Vorabend des zweiten Lockdowns gezeigte Film löst bei meiner Begleitung Unbehagen und bei mir verhaltenes Staunen aus. Die ärmlichen Wohnverhältnisse im ruralen Osten Europas, in die die Außenmitarbeiter vordringen, will mein Freund nicht auch noch riechen müssen. Mich verwundert, dass der Übergang ins Mobilfunkzeitalter dort teils noch im Gange ist.
Die Versuchsanordnung ist ähnlich dem Vorgänger-Film „Secondo Me“. Ein Beruf, ein Thema, mehrere Länder. 100 Stunden Material, ausgewertet und zu einem soziologisch-ethnologischen Film-Essay von 86 min montiert. Und doch ist der neue Film gänzlich anders. Steht in „Secondo Me“ der Vergleich der Lebensentwürfe und ‑biographien von drei Garderobiers an drei Opernhäuser im Vordergrund, so vermischen sich in „Bitte Warten“ die unterschiedlichen Berufsalltage und Drehorte. Die neue Technologie und zunehmende Globalisierung unterscheiden sich in Rumänien, Bulgarien, Moldawien und der Ukraine nicht und auch die Telekom-Kunden gleichen sich weitgehend. Sie scheinen den Anschluss an die vernetze Gesellschaft zu verlieren oder lehnen diesen auch bewusst ab. Fernsehen und Festnetz wie anno dazumal muss jedoch sein, dazu am liebsten noch die alten Programme.
Anders als in den vorangehenden Teilen, sind es im aktuellen Film offensichtlich nicht so sehr der Berufs- und Lebensalltag der Servicetechniker, die Cuziuoc interessieren, sondern die Geschichten und Erzählungen der Kunden. Dabei finden sich wundervolle Kleinporträts. Etwa ein Priester, der über Kommunikation philosophiert, ein Vater, der den Drogentod seines Sohnes betrauert oder ein Pensionist, der überzeugend Anarchismus Kropotkinscher Prägung als Lösung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen präsentiert.
Allein man fragt sich, was das für den Film und die Idee einer Trilogie über besondere Berufe bringt? Aus berufswissenschaftlicher Sicht wäre es sicherlich interessanter gewesen, mehr über die Außendienstmitarbeiter zu erfahren. Noch spannender wäre gewesen, diese offensichtlich ausschließlich Männern vorbehaltene Domäne mit der nur zu Beginn des Films gezeigten und weitgehend ausgestorbenen, streng weiblichen Welt der technischen Innendienstmitarbeiterinnen von Telefonverwaltungen zu vergleichen. Sehenswert ist der Film, der im März 2021 in die Kinos kommen soll, genauso wie die zwei anderen Filme der Trilogie.
Tags: Telekom, Kommunikation, Servicetechniker, Außendienstmitarbeiter, Rumänien, Moldau, Ukraine, Bulgarien, Trilogie, Pavel Cuzuioc, Secondo Me.
BITTE WARTEN, Trailer, 2020, Österreich, 86 min
Arbeit in der Telefonzentrale, London, 1960, 1960, Huntley Film Archive
Telefonzentrale, London, 1930
Bitte Warten, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Gesellschaft ohne Anschluss
Im dritten und letzten Teil seiner vor rund 10 Jahren begonnenen Doku-Trilogie zu außergewöhnlichen Berufen führt uns Pavel Cuzuioc, der in Wien lebende und in Moldau geborene Filmemacher, einmal mehr in seine Herkunftsregion. Waren es im Debutfilm Totengräber, im letzten Film Garderobiers (siehe auch Beitrag Garderobiers der Weltbühnen) sind es im aktuellen Film nun Außendienstmitarbeiter von Telekomanbieter in Rumänien, Bulgarien, Moldau und der Ukraine.
Der bei der Viennale 2020 am Vorabend des zweiten Lockdowns gezeigte Film löst bei meiner Begleitung Unbehagen und bei mir verhaltenes Staunen aus. Die ärmlichen Wohnverhältnisse im ruralen Osten Europas, in die die Außenmitarbeiter vordringen, will mein Freund nicht auch noch riechen müssen. Mich verwundert, dass der Übergang ins Mobilfunkzeitalter dort teils noch im Gange ist.
Die Versuchsanordnung ist ähnlich dem Vorgänger-Film „Secondo Me“. Ein Beruf, ein Thema, mehrere Länder. 100 Stunden Material, ausgewertet und zu einem soziologisch-ethnologischen Film-Essay von 86 min montiert. Und doch ist der neue Film gänzlich anders. Steht in „Secondo Me“ der Vergleich der Lebensentwürfe und ‑biographien von drei Garderobiers an drei Opernhäuser im Vordergrund, so vermischen sich in „Bitte Warten“ die unterschiedlichen Berufsalltage und Drehorte. Die neue Technologie und zunehmende Globalisierung unterscheiden sich in Rumänien, Bulgarien, Moldawien und der Ukraine nicht und auch die Telekom-Kunden gleichen sich weitgehend. Sie scheinen den Anschluss an die vernetze Gesellschaft zu verlieren oder lehnen diesen auch bewusst ab. Fernsehen und Festnetz wie anno dazumal muss jedoch sein, dazu am liebsten noch die alten Programme.
Anders als in den vorangehenden Teilen, sind es im aktuellen Film offensichtlich nicht so sehr der Berufs- und Lebensalltag der Servicetechniker, die Cuziuoc interessieren, sondern die Geschichten und Erzählungen der Kunden. Dabei finden sich wundervolle Kleinporträts. Etwa ein Priester, der über Kommunikation philosophiert, ein Vater, der den Drogentod seines Sohnes betrauert oder ein Pensionist, der überzeugend Anarchismus Kropotkinscher Prägung als Lösung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen präsentiert.
Allein man fragt sich, was das für den Film und die Idee einer Trilogie über besondere Berufe bringt? Aus berufswissenschaftlicher Sicht wäre es sicherlich interessanter gewesen, mehr über die Außendienstmitarbeiter zu erfahren. Noch spannender wäre gewesen, diese offensichtlich ausschließlich Männern vorbehaltene Domäne mit der nur zu Beginn des Films gezeigten und weitgehend ausgestorbenen, streng weiblichen Welt der technischen Innendienstmitarbeiterinnen von Telefonverwaltungen zu vergleichen. Sehenswert ist der Film, der im März 2021 in die Kinos kommen soll, genauso wie die zwei anderen Filme der Trilogie.
Tags: Telekom, Kommunikation, Servicetechniker, Außendienstmitarbeiter, Rumänien, Moldau, Ukraine, Bulgarien, Trilogie, Pavel Cuzuioc, Secondo Me.
BITTE WARTEN, Trailer, 2020, Österreich, 86 min
Arbeit in der Telefonzentrale, London, 1960, 1960, Huntley Film Archive
Telefonzentrale, London, 1930
Bitte Warten, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Bitte Warten, 2020, Still
© Pavel Cuzuioc, Filmgarten
Korea’s Generation Praktikum 4.0
Die TV-Serie „Misaeng: Incomplete Life“ gewährt tiefe Einblicke in Korea’s Arbeitswelt und den schwierigen Übergang dorthin
Trotzdem ist Lazzaro glücklich
Alice Rohrwachers Film über die zweifelhafte Befreiung aus einem Untertanenverhältnis
Arbeitsinspektor Corona
Das Corona Virus fördert immer öfter Missstände zu Tage: Wildtiermärkte, prekäre Arbeitsbedingungen, Pelzfarmen. Was kommt als nächstes?
Stapler-Konflikte
In den Gängen (2018) von Thomas Stuber ist der ultimative Lagerarbeiter-Spielfilm. So viel Drehort ‚Arbeitsplatz’, ein Großmarkt, und so viel Einblick in die Einschulung in einen Hilfsberuf gab es im Kino noch nie. Obendrauf gibt es noch eine Romanze.
Garderobiers der Weltbühnen
Im zweiten Teil seiner Trilogie über Menschen in ungewöhnlichen Berufen, „Secondo Me” (2016), begleitet Pavel Cuzuioc drei Garderobiers an drei europäischen Opernhäusern und holt das Alltägliche vor den Vorhang.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.