
Observations on Work, Employment & Education
Zukunft der Arbeit: Science und Science-Fiction
In den vergangenen Jahren war ich beruflich selten im Jetzt. Forschungsprojekte, die ich zuletzt betreute, blickten abwechselnd in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Bildung. Gemeinsam mit einem über ganz Europa verstreuten Forschungsteam und diversen Interessensgruppen haben wir etwa Szenarien für die Entwicklung der Berufsbildung bis zum Jahre 2035 erarbeitet (Markowitsch, Grollmann & Bjørnåvold 2020, Cedefop 2020).
Szenarien fungieren dabei als plausible und relevante Geschichten einer imaginierten Zukunft. In der wissenschaftsbasierten Politikberatung ist die Szenario-Methode eine Art Kompromiss zwischen Wissenschaft und Science-Fiction. Neben wissenschaftlicher Strenge erfordert die Methode ein gehöriges Maß an Kreativität und Phantasie. In diesem Sinne sind Szenarien in der Sozialforschung jenen im Film oder Comic, wo sie ja immer schon eine wichtige Rolle im Produktionsprozess hatten, sehr ähnlich.
Dass sich die Zukunftsforschung selbst mit Science-Fiction Filmen beschäftigt, ist an sich eher die Ausnahme. Kürzlich hat jedoch ein junger italienischer Zukunftsforscher, Alessandro Fergnani, gemeinsam mit seinem Doktorvater Zhaoli Song von der National University of Singapore eine Analyse von 140 Science-Fiction-Filmen vorgelegt, und ihre Erkenntnisse daraus auf mögliche künftige Auswirkungen der COVID-19-Krise angewandt (Fergnani & Song 2020, siehe auch Fergnanis youtube channel). Immerhin wissen wir jetzt, dass die verschiedenen Szenarien im Science-Fiction Film, von Metropolis über Blade Runner bis hin zu Hunger Games, stets auf dieselben sechs Zukunfts-Archetypen zurückgreifen und in der Regel 300 Jahre in der Zukunft liegen. In Hinblick auf gegenwärtige politische Entscheidungen ist dies dann doch recht weit weg.
Sehr viel handfester und brauchbarer für meine Arbeit fand ich hingegen die britische Drama-Fernsehserie “Years and Years” (2019) von Russell T. Davies. Sie beginnt in der Gegenwart und liefert eine Fiktion der kommenden 15 Jahren, umspannt also zufällig denselben Zeithorizont wie unsere Berufsbildungs-Szenarien.
Die Serie folgt einer durchschnittlichen britischen Familie, den Lyons, sowie dem kometenhaften Aufstieg einer nationalistischen Politikerin (gespielt von der zweifachen Oscar-Preisträgerin Emma Thompson) im Vereinigten Königreich unmittelbar nach der Wiederwahl Trumps. Im Verlauf der Jahre erleben wir eine Verschärfung der Flüchtlingssituation, eine weitere Finanzkrise, eine Affengrippe-Pandemie, den „Grexit“, einen extremen Linksruck in Spanien, einen US-Atomschlag auf eine künstliche chinesische Insel sowie die Verschmelzung Mensch und Maschine, die zu einer eigenen Bewegung wird (“Ich bin transhuman, nicht transsexuell!”).
Die Serie liefert grandioses Material für die Zukunftsforschung, inhaltlich wie methodisch. Als Zuschauer:innen werden wir nicht in eine ferne Zukunft geworfen, sondern erkennen wie Entscheidung und Ereignisse von heute, das Morgen beeinflussen. Sie veranschaulicht damit, was die Sozialwissenschaft „Pfadabhängigkeit“ nennt. Die Hauptfiguren sind keine Helden oder Heldinnen, die den Lauf der Geschichte verändern, sondern eine gewöhnliche britische Patchwork-Familie. Damit können wir sehen und fühlen, was die Zukunft für unser eigenes Leben bereithalten könnte. Außerdem wird von Anfang an deutlich, dass die Zukunft auch eine andere Richtung hätte nehmen können (Trump hat die Wiederwahl bekanntlich verloren). Schließlich, und das ist vielleicht der interessanteste Aspekt, die Lyons bleiben die Lyons. Trotz der diversen politischen und persönlichen Krisen bleibt die Struktur der Mehrgenerationenfamilie weitgehend stabil. Auch das ein wichtiger Hinweis für die Szenarien-Entwicklung in der Sozialforschung: Welche Strukturen verändern sich rasch, welche nur allmählich? Oder, wie HBO die Serie ankündigt: „As society changes at an ever-increasing pace, the Lyons family experiences everything we hope for in the future, and everything we fear.“
Sowohl die Archetypen von Fergnani als auch „Years and Years“ veranschaulichen das Potenzial, das für die Soft Sciences in einer Öffnung für andere (nicht-wissenschaftliche) Formen der Wissensgenerierung und Reflexion von Praktiken, sprich der Transdisziplinarität, steckt.
Dank an Philipp Grollmann, ohne den der Artikel wohl nicht zustande gekommen wäre.
Referenzen:
Cedefop. (2020). Vocational education and training in Europe 1995–2035. Scenarios for European vocational education and training in the 21st century. Luxembourg: Publications Office of the European Union.
Fergnani, A., & Song, Z. (2020). The six scenario archetypes framework: A systematic investigation of science fiction films set in the future. Futures, 124, 102645..
Markowitsch, Jörg, Grollmann, Philipp & Jens Bjørnåvold (2020). Berufsbildung 2035: Drei Szenarien für die Berufsbildung in Europa, BWP, 3/2020 (49).
Siehe auch die Filmkritik “The near-future shock of Years and Years” (2019) von Sophie Gilbert in The Atlantic.
Years & Years (2019): Official Trailer | HBO
Alex Fergnani, Science Fiction as Foresight: Top Three Methods, Feb 16, 2021

Transhuman? Filmstil, Years and Years
© HBO

The Lyons Family
© HBO

Emma Thompson in 'Years and Years' (2019), Filmstil
© HBO
Zukunft der Arbeit: Science und Science-Fiction
In den vergangenen Jahren war ich beruflich selten im Jetzt. Forschungsprojekte, die ich zuletzt betreute, blickten abwechselnd in die Vergangenheit und in die Zukunft. Die Zukunft der Arbeit und der Bildung. Gemeinsam mit einem über ganz Europa verstreuten Forschungsteam und diversen Interessensgruppen haben wir etwa Szenarien für die Entwicklung der Berufsbildung bis zum Jahre 2035 erarbeitet (Markowitsch, Grollmann & Bjørnåvold 2020, Cedefop 2020).
Szenarien fungieren dabei als plausible und relevante Geschichten einer imaginierten Zukunft. In der wissenschaftsbasierten Politikberatung ist die Szenario-Methode eine Art Kompromiss zwischen Wissenschaft und Science-Fiction. Neben wissenschaftlicher Strenge erfordert die Methode ein gehöriges Maß an Kreativität und Phantasie. In diesem Sinne sind Szenarien in der Sozialforschung jenen im Film oder Comic, wo sie ja immer schon eine wichtige Rolle im Produktionsprozess hatten, sehr ähnlich.
Dass sich die Zukunftsforschung selbst mit Science-Fiction Filmen beschäftigt, ist an sich eher die Ausnahme. Kürzlich hat jedoch ein junger italienischer Zukunftsforscher, Alessandro Fergnani, gemeinsam mit seinem Doktorvater Zhaoli Song von der National University of Singapore eine Analyse von 140 Science-Fiction-Filmen vorgelegt, und ihre Erkenntnisse daraus auf mögliche künftige Auswirkungen der COVID-19-Krise angewandt (Fergnani & Song 2020, siehe auch Fergnanis youtube channel). Immerhin wissen wir jetzt, dass die verschiedenen Szenarien im Science-Fiction Film, von Metropolis über Blade Runner bis hin zu Hunger Games, stets auf dieselben sechs Zukunfts-Archetypen zurückgreifen und in der Regel 300 Jahre in der Zukunft liegen. In Hinblick auf gegenwärtige politische Entscheidungen ist dies dann doch recht weit weg.
Sehr viel handfester und brauchbarer für meine Arbeit fand ich hingegen die britische Drama-Fernsehserie “Years and Years” (2019) von Russell T. Davies. Sie beginnt in der Gegenwart und liefert eine Fiktion der kommenden 15 Jahren, umspannt also zufällig denselben Zeithorizont wie unsere Berufsbildungs-Szenarien.
Die Serie folgt einer durchschnittlichen britischen Familie, den Lyons, sowie dem kometenhaften Aufstieg einer nationalistischen Politikerin (gespielt von der zweifachen Oscar-Preisträgerin Emma Thompson) im Vereinigten Königreich unmittelbar nach der Wiederwahl Trumps. Im Verlauf der Jahre erleben wir eine Verschärfung der Flüchtlingssituation, eine weitere Finanzkrise, eine Affengrippe-Pandemie, den „Grexit“, einen extremen Linksruck in Spanien, einen US-Atomschlag auf eine künstliche chinesische Insel sowie die Verschmelzung Mensch und Maschine, die zu einer eigenen Bewegung wird (“Ich bin transhuman, nicht transsexuell!”).
Die Serie liefert grandioses Material für die Zukunftsforschung, inhaltlich wie methodisch. Als Zuschauer:innen werden wir nicht in eine ferne Zukunft geworfen, sondern erkennen wie Entscheidung und Ereignisse von heute, das Morgen beeinflussen. Sie veranschaulicht damit, was die Sozialwissenschaft „Pfadabhängigkeit“ nennt. Die Hauptfiguren sind keine Helden oder Heldinnen, die den Lauf der Geschichte verändern, sondern eine gewöhnliche britische Patchwork-Familie. Damit können wir sehen und fühlen, was die Zukunft für unser eigenes Leben bereithalten könnte. Außerdem wird von Anfang an deutlich, dass die Zukunft auch eine andere Richtung hätte nehmen können (Trump hat die Wiederwahl bekanntlich verloren). Schließlich, und das ist vielleicht der interessanteste Aspekt, die Lyons bleiben die Lyons. Trotz der diversen politischen und persönlichen Krisen bleibt die Struktur der Mehrgenerationenfamilie weitgehend stabil. Auch das ein wichtiger Hinweis für die Szenarien-Entwicklung in der Sozialforschung: Welche Strukturen verändern sich rasch, welche nur allmählich? Oder, wie HBO die Serie ankündigt: „As society changes at an ever-increasing pace, the Lyons family experiences everything we hope for in the future, and everything we fear.“
Sowohl die Archetypen von Fergnani als auch „Years and Years“ veranschaulichen das Potenzial, das für die Soft Sciences in einer Öffnung für andere (nicht-wissenschaftliche) Formen der Wissensgenerierung und Reflexion von Praktiken, sprich der Transdisziplinarität, steckt.
Dank an Philipp Grollmann, ohne den der Artikel wohl nicht zustande gekommen wäre.
Referenzen:
Cedefop. (2020). Vocational education and training in Europe 1995–2035. Scenarios for European vocational education and training in the 21st century. Luxembourg: Publications Office of the European Union.
Fergnani, A., & Song, Z. (2020). The six scenario archetypes framework: A systematic investigation of science fiction films set in the future. Futures, 124, 102645..
Markowitsch, Jörg, Grollmann, Philipp & Jens Bjørnåvold (2020). Berufsbildung 2035: Drei Szenarien für die Berufsbildung in Europa, BWP, 3/2020 (49).
Siehe auch die Filmkritik “The near-future shock of Years and Years” (2019) von Sophie Gilbert in The Atlantic.
Years & Years (2019): Official Trailer | HBO
Alex Fergnani, Science Fiction as Foresight: Top Three Methods, Feb 16, 2021

Transhuman? Filmstil, Years and Years
© HBO

The Lyons Family
© HBO

Emma Thompson in 'Years and Years' (2019), Filmstil
© HBO

Das Ich im Haar: Über das Können von Friseur*innen
Der Schlüssel zur gelungenen Frisur liegt freilich im Können der Friseur*innen. Doch die haarige Kunst erschöpft sich nicht im Instrumentellen, sondern bezieht die ‚Kulturalität‘ des Haars mit ein. Eine zeitgemäße Kritik eines traditionellen Berufsbildes.
Efficiency kills
Der 2017 verstorbene US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler William J. Baumol fand heraus, warum das Effizienzprinzip den Dienstleistungssektor kaputt macht – und letztlich Covid-Todesopfer mitverantwortet.
Plädoyer für autochthone Bildungssysteme
"In my blood it runs" (2019) ist ein intimes Porträt eines Aborigine-Jungen und seiner Familie sowie Zeugnis der eklatanten Mängel des australischen Bildungssystems im Umgang mit der indigenen Bevölkerung Australiens.
Zwangsarbeit bis über den Tod hinaus
Eine kapitalismuskritische Lesart des Zombiefilms anlässlich des Erscheinens von Zombi Child (2019) von Bertrand Bonello.
Vergleichende Arbeitsforschung mit der Kamera: Darcy Lange
Der Künstler Darcy Lange lieferte mit der Kamera bedeutendes wissenschaftliches Material zu Arbeit und Bildung, das es in der Sozial- und Bildungsforschung noch aufzuarbeiten gilt.
Gesellschaft ohne Anschluss
Der neue Film „Bitte Warten“ (2020) von Pavel Cuzuioc begleitet die Arbeit von Servicetechnikern in der Telekommunikationsbranche im äußersten Osten Europas und porträtiert dabei doch mehr deren Kunden. Leute, die den Anschluss zu verlieren drohen.

Über diesen Blog
Mit der Auswahl eines Films oder eines Bildes veranschaulicht dieser Blog buchstäblich das weite Feld der Arbeit, Beschäftigung und Bildung in einer offenen Sammlung akademischer, künstlerischer und auch anekdotischer Erkenntnisse.
Über uns
Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Beide leben in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
Über uns hinaus
Interesse an mehr? Wir haben hier Empfehlungen zu einschlägigen Festivals, Filmsammlungen und Literatur zusammengestellt.
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Konrad Wakolbinger dreht Dokumentarfilme über Arbeit und Leben. Jörg Markowitsch forscht zu Bildung und Arbeit. Wir arbeiten beide in Wien. Informationen zu Gastautoren und ‑autorinnen finden sich bei ihren jeweiligen Beiträgen
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